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Und Internet, das sowieso

■ Von Tannen und anderen Grenzzwischenfällen: Trinken, Drogen, Trabrennbahn – einige Beobachtungen zum hiesigen Brauchtum rund um die Vor- beziehungsweise Nachweihnachtszeit

„Na, sagte ick, dis Fest, dis gehört alle Leute, die's mit der Liebe haben.“ (Wolfgang Neuss)

Sehr angenehm kommt der Dezember daher. Die Novemberdepressionen sind weggegangen, und die Stadt gleitet kollektiv in seltsame Räusche, die Mitte Dezember beginnen, um Anfang Januar so allmählich langsam auszuklingen. Dann geht's normal weiter. Ohne die allerdings, die sich, wie gegen Jahresende üblich, vor die U-Bahn geschmissen haben.

Weihnachtszeit also: Betriebliche Weihnachtsfeiern werden ausgerichtet, auf denen Leute, die einander im Jahresrest eher selten auch nur grüßen, scheu scherzend zueinander finden. „Jo“ hat seinen Imbiß fromm geschmückt. Holzgeschnitzte Weihnachtsmänner stehen gelangweilt in Friseurschaufenstern und bohren sich in der Nase. Geschmackvolle Weihnachtsdekos sehen blöd aus, und „Weihnachten soll man sich nicht betrinken oder sonst was“, antwortet Graciano Rocchigiani auf irgendeine Frage im Radio. „Das ist ja ein Fest der Familie.“

Wer nicht Familie ist, braucht sich nicht dran zu halten. Exaltierte JunggesellInnen taumeln durch jahresendzeitliche Vergnügungen: Trinken, Drogen, Trabrennbahn und immer schön viel rauchen! Verschwendung! Nachräusche am Vormittag. Alkohol am Nachmittag! Behascht dann in den Abend, Freunde treffen. Und zwischendurch: Dostojewski lesen, Fernsehen gucken, das Gesicht in die Sonne am Ufer halten („the sun don't shine on your TV“). So soll das Leben sein!

Und Internet, das sowieso. Ohne Filter, ganz direkt. Vorhin erzählte mir meine Freundin von „Schafhirte“, einem neuen virtuellen Freund, den sie in einem verwaisten „Channel“ kennengelernt hatte: „Er ist der Gehilfe des Weihnachtsmannes, wenn ich recht verstehe, und auch sehr nett.“

Draußen sind ein paar tausend Bäume in der Stadt eingetroffen. „Doch nicht alle Tannen sind unbeschadet angekommen“, schreibt die Berliner Zeitung: „So ließen bayrische Grenzbeamte am Donnerstag abend einen für Berlin bestimmten 15-Meter-Baum aus Kärnten an der Grenze ,köpfen‘. Er ragte angeblich zu weit über die Ladefläche des Lastwagens hinaus. Die Kärntner sind sauer und geschockt über den ,Grenzzwischenfall‘. Sie vermuten innerdeutsche Animositäten, da der Baum ein Geschenk für die Berliner war: ,Was kann der Christbaum dafür, daß die Bayern die Preußen nicht mögen‘, klagt der Brauchtumsbeauftragte Sepp Prugger.“

So was passiert leider Gottes in jedem Jahr. Auch anderes gibt zu denken: Jeder achte Berliner will diesmal keinen Pfennig für Weihnachtsgeschenke ausgeben, fand das Offenbacher „Forschungsinstitut“ Marplan heraus. Ein trauriger Rekord! Bundesdurchschnittlich gibt es 3,4 Prozent Geschenkeverweigerer. Allerdings sind die Berliner im ausgestalten privater Weihnachtsfenster „Spitze“. Vor allem in Kreuzberg und Neukölln. Was mag sich hinter dem Gelichter nur verbergen? Hella meint, je ordentlicher die Weihnachtsbeleuchtung, desto finsterer seien wohl die privatmitmenschlichen Verhältnisse der Leute, die dahinter wohnen. Mag sein. An der Haustür unter mir hängt zum Beispiel ein fetter Adventskranz. Dahinter hört man die Kleinfamilienfrau ihren Mann oft eine „Witzfigur“ schimpfen.

Edith dagegen, die seit 40 Jahrenn in der Choriner Straße in Prenzlauer Berg wohnt, ist da ganz anders; allerdings auch allein. Im Treppenhaus hat sie einen Weihnachtsaltar aufgebaut mit roten Weihnachtskugeln, Tannenzapfen, glänzenden Sternchen, einer Vase mit Weihnachtlichem, bißchen angestaubtem Lametta und einem Weihnachtsmann, der früher eine kleine Kinderpuppe war.

Lustfaktor Weihnachten: Weihnachtskarten werden auch massenhaft geschrieben. Das ist ein schöner angelsächsischer Brauch, der sich auch hierzulande langsam einzubürgern beginnt. Auf den Karten sieht man Fotos, auf denen junge Familien auf gelben Sofas in die Kamera lächeln; der kleine Leon macht ein Kunststück und steht lustig auf dem Kopf. Über der leger barfüßigen Familie ist ein goldenes Band an die Wand geheftet. Darauf steht: „Merry Christmas“ oder/und „Happy New Year.“ Das hätte er in Asien kennengelernt, und seitdem würde er das auch immer machen, erzählt Micha, der Weihnachten eigentlich „nicht so gut“ findet. Sein durch die kindergärtliche Weihnachtspropagandamaschine gedrehter Sohn kräht dagegen laut allerlei Weihnachtslieder und möchte gar nicht mehr aufhören. Gestern lag auch ein Weihnachtsgruß von „LordPorn“ in meiner Mailbox; wahrscheinlich, weil ich mal „Busen“ auf der Suchmaschine eingegeben hatte. Im richtigen Leben („irL“) dagegen legte mir mein Zeitungszusteller, der immer schon um 4.30 Uhr kommt, einen netten Weihnachtsgruß mit seiner Kontonummer in den richtigen Briefkasten.

Dezemberwind: Bei gefühlten Temperaturen von zehn Grad minus holpert der schwarze „Komaexpress“ der Weinhandlung „Suff“ übers Kopfsteinpflaster. Sanftmütig schlendert man im Kerzenschein durch die Wohnung. An den Fenstern sind Eisblumen. Da kann man nicht mehr rausgucken, da glitzert es von innen. Dank Hoch Anselm, den ich gerade vor der AGB bibbernd traf, umgeben von protestierenden Studenten und Schülern. Zwischen Eisblumen und Ofen träumt man des nachts von Schneewittchens schüchterner Scham und findet die Bevölkerung prima. Zumindest theoretisch.

Als Teenager genossen wir zu Weihnachten gerade unsere Haltlosigkeit und rannten betrunken, jedes Jahr, wenn wir nachts aus der Haschkneipe kamen, zum kleinstädtischen Weihnachtsbaum, schraubten ein paar Glühbirnen heraus und warfen die Glühbirnen dann gegen die, die noch am Baum waren. Das krachte schön und machte viel Freude. Einmal wurde ich erwischt und traf dann bei der Jugendstrafarbeitsauflage Bernd, der vom Dorf kam und in eine Konditorei eingebrochen war. Bernd wurde gefaßt, als er überglücklich in der Konditorei saß und die ganzen Torten aß. Noch weiter im Damals, als es noch keine Erlebnis- und Ereignisgottesdienste gab und „Arschkaffeetassen“ vom kleinen Arschloch ganz undenkbar waren, war es meines Vaters alljährliche Aufgabe, jedes Jahr zum ersten Advent einen Weihnachtsbaum auf das hohe Dach des Bad Segeberger Möbelmultis „Möbel Kraft“ zu stellen. Das konnte sonst niemand. Das Dach schien mir hundert Meter hoch zu sein, und stürmisch war es da oben. So war ich sehr stolz auf den Vater und fühlte mich ein bißchen wie der Sohn des Weihnachtsmanns. Detlef Kuhlbrodt

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