: Im unterfränkischen Westheim vergrub die Wehrmacht am Ende des 2. Weltkriegs Waffen und Munition in riesigen Mengen. Fast 50 Jahre später erkrankte Marion Hahn an MCS, der Vielfachen Chemiekalienempfindlichkeit. Wer nach Parfüm riecht, darf
Im unterfränkischen Westheim vergrub die Wehrmacht am Ende des 2. Weltkriegs Waffen und Munition in riesigen Mengen. Fast 50 Jahre später erkrankte Marion Hahn an MCS, der Vielfachen Chemiekalienempfindlichkeit. Wer nach Parfüm riecht, darf ihr nicht nahe kommen.
Krank durch Gasgranaten
Sie schlug mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte auf und konnte sich minutenlang nicht bewegen. Nur ihr rechter Arm zitterte. Das Herz raste. Für kurze Zeit konnte sie auch nicht mehr sprechen. Kein Wort – kein Schrei. Nur ein Gedanke: „Ich sterbe.“ Die erste Diagnose der Ärzte: „Frau Hahn – das sind die Wechseljahre.“
Mehr als sieben Jahre sind seit diesem ersten Anfall vergangen. Die heute 50jährige Marion Hahn lebte damals in Westheim in Unterfranken. Aus Wiesbaden war sie vor Smog im Winter und Ozon im Sommer in die Abgeschiedenheit der Region zwischen Schweinfurt und Bamberg geflüchtet. „Idylle pur – und so richtig gesunde Luft.“ Doch aus der Idylle wurde für Marion Hahn schnell eine Hölle. Und die „gesunde Luft“ kostete sie beinahe das Leben. Denn dem ersten Anfall im gerade bezogenen Haus am Rande des Dorfes folgten weitere, heftigere. „Zweimal bin ich tatsächlich fast gestorben. Und ich bekam Probleme mit der Sprache.“ Sie konnte keine zusammenhängenden Sätze mehr bilden und mußte das Fernstudium der Ethnologie aufgeben. Das Leben wurde für sie zum Alptraum.
Daß sie das Opfer der Ausdünstungen vergrabener und verrottender Gasgranaten aus den Beständen der Deutschen Wehrmacht wurde, erfuhr sie erst nach umfangreicher eigener Recherche – nach ungezählten ergebnislosen Besuchen bei ignoranten Ärzten. Die tippten auf ein vererbtes Nervenleiden oder diagnostizierten Alzheimer, multiple Sklerose und diverse Psychosen. „Bis ich wußte, was mich so krank gemacht hat, bin ich fast verrückt geworden.“
Auch die Umweltmediziner scheiterten mit ihren Diagnoseversuchen. „Alles macht alles“, habe deren Credo gelautet. Doch krankmachende Fasern im Teppich oder Formaldehyd im Leim der Schrankwände wurden im Haus von Marion und Lothar Hahn nicht gefunden. Daß sie nicht verrückt wurde, hat sie ihrer Hartnäckigkeit bei der Ursachenforschung zu verdanken. Daß sie überlebte ihrem Entschluß, das Haus in Westheim aufzugeben. Da lag sie „nach dem schlimmsten Anfall von allen“ in einer Klinik in Haßfurt. In ihrem Blut wurden 11,3 Mikrogramm HCB (Hexachlorbenzol) nachgewiesen. Das Aromat zählt zu den am schwersten abbaubaren Chlorkohlenwasserstoffen, seine Anwendung im Bereich des Pflanzenschutzes ist seit 1980 verboten. In Alzey in Rheinhessen fanden Marion Hahn und ihr Mann Lothar eine neue Wohnung. Schon Tage nach dem Umzug ging es ihr besser.
Zurück nach Westheim. Als das Haus auf den Kopf gestellt war und Marion Hahn den x-ten hilflosen Arzt kontaktiert hatte, las sie per Zufall Berichte von US-Soldaten, die im Golfkrieg mit Giftgas in Berührung gekommen waren. Die von den GIs beschriebenen Erkrankungen, die heute in den USA unter dem Namen Gulf-War-Syndrom (GWS) zusammengefaßt werden, waren auch bei ihr in dieser oder ähnlicher Form aufgetreten. Marion Hahn besorgte sich das Kompendium der klinischen Toxologie von Max Daunderer. Dessen 6. Band beschäftigt sich im III. Teil mit Kampfstoffverbindungen. Unter den Stichworten Tabun, Samun und Sarin, alles Nervengifte, fand sie „haarklein“ ihre Symptome beschrieben. „Das war für mich der Durchbruch. Ich wußte endlich, was mich fast umgebracht hat: Kampfstoffe.“
Doch mit dieser Erkenntnis stand sie wieder fast alleine da. Was sie krank machte, hatte sie herausgefunden. Aber hatte ihre Krankheit auch einen Namen? Und gab es LeidensgenossInnen? Die Krankheit hat einen Namen: Multiple Chemical Sensitivity (MCS), auf deutsch: Vielfache Chemikalienempfindlichkeit. Und es gibt auch LeidensgenossInnen. In einer von Hahn angelegten MCS-Datei finden sich heute rund 100 PatientInnen mit detaillierten Krankheitsgeschichten.
An MCS erkrankte Menschen leiden an einer Überempfindlichkeit des Körpers gegenüber chemischen Substanzen, da sie giftigen Stoffen längere Zeit ausgesetzt waren. Für einen der wenigen MCS- Experten in Deutschland, dem Chefarzt der Abteilung für Lungenkrankheiten und Allergien im Klinikum Cottbus, Prof. Dr. Hans Schweisfurth, ist die Krankheit letztlich die „Quittung für die Durchchemisierung der Umwelt“. Schweisfurth behandelt in Cottbus an MCS erkrankte PatientInnen, deren Immunsystem durch den „Dauerbeschuß“ mit diversen Chemikalen zusammengebrochen ist. Fast alle Patienten hätten eine ähnlich schlimme Leidenszeit wie Marion Hahn durchgemacht – physisch und auch psychisch. Vielfach würden die Patienten von unwissenden Ärzten als Simulanten verunglimpft. Und weil sie sich aus Angst vor plötzlich auftretenden Anfällen kaum noch auf die Straße wagten, lebten sie oft über Jahre hinweg in der sozialen Isolation. „Wenn dann von einem niedergelassenen Arzt nicht erkannt wird, daß es sich um eine MCS-Erkrankung handelt, landet der Patient oft in der Psychatrie“, sagt Schweisfurth. Das sei dann meist „die Endstation“.
Deshalb kann über die Gesamtzahl der an MCS erkrankten Menschen nichts genaues gesagt werden. Es sei ein Ärgernis, so Schweisfurth, daß sich die sogenannte Schulmedizin in Deutschland noch immer weigere, MCS als eigenständiges Krankheitsbild anzuerkennen. Wäre das der Fall, könnten die Ärzte über Fortbildungsmaßnahmen für MCS sensibilisiert werden. Zahllosen Menschen würde so der Gang in die Psychatrie erspart. Nach der Diagnose MCS helfe oft schon ein Ortswechsel, verbunden mit einer Änderung der Lebensgewohnheiten. In den Vereinigten Staaten ist MCS seit Jahren eine anerkannte Krankheit. In Texas gibt es eine Klinik für MCS-Patienten mit 400 Betten. Dagegen weigert sich die US-Administration hartnäckig, das Gulf-War-Syndrom (GWS) bei Veteranen anzuerkennen – aus politischen und finanziellen Gründen.
Mit der Diagnose MCS gab sich Marion Hahn jedoch nicht zufrieden. Sie wollte genau wissen, was an Kampfstoffen wo verbuddelt worden war, als die Amerikaner 1945 die Region eingekesselt hatten. Und sie wollte herausfinden, ob nur sie allein durch die Gase so krank geworden war – oder nicht auch andere Dorfbewohner. Lothar Hahn blieb übrigens von MCS verschont. Der Atomphysiker war damals Wochenendheimfahrer. Daß in den Wäldern rund um das Dorf bei Kriegsende „Zeuch“ vergraben wurde, berichteten Zeitzeugen. In den unterirdischen Gängen der Burgruine auf dem nahen Zabelstein sollen Tonnen von Munition verschwunden sein. Und in der Nähe befand sich zu Kriegsbeginn ein Bombenabwurfplatz für übende Stuka-Piloten. Daß aus den Wäldern ringsum das Trinkwasser für die 702 WestheimerInnen kommt, erfuhr Hahn von der Kreisverwaltung.
In einem Gutachten zur Erfassung und Neubewertung von Rüstungsaltlasten der Bayerischen Staatsregierung sind für die gesamte Region rund 50 illegale Lagerstätten für militärische Altlasten bezeugt. Zwei „zentrale Lagerstätten“ finden sich direkt bei Westheim. Munition, Granaten, Gasgranaten wurden in riesigen Mengen vergraben: von der Wehrmacht, aber vielleicht auch von den US-Amerikanern, die nach dem Krieg die leerstehenden militärischen Komplexe übernahmen. Welche Kampfstoffe in den Granaten enthalten sind, ist nicht bekannt. Und auch nicht der Grad ihrer Verrottung. Keine kommunale Verwaltung wagt es, durch Grabungen das Rätsel zu lösen. In ganz Bayern gibt es mehr als 12.000 sogenannte Altlastenverdachtsflächen.
In Westheim litt nicht nur Marion Hahn an „unüblichen Krankheiten“. Der Emil habe über Jahre hinweg so gezittert, daß er immer die Suppe verschüttete, hieß es im Dorf. Emil bewohnte vor Marion Hahn das Haus am Ortsrand. Ein anderer habe „irgendwas am Kleinhirn“ gehabt. Der sei dann schnell gestorben. Und über permanente Herzschmerzen klagten auch heute noch zahlreiche Männer und Frauen aus Westheim, fand Marion Hahn heraus. In der Region lebt auch ein Mann, der es in keinem Haus mehr aushält. Franz schläft im Wald. Und weil er selbst von Decken einen allergischen Hautausschlag bekommt, gräbt er sich in Laub ein.
Der Arzt und Umweltschützer Rainer Pliess aus Sulzheim in Unterfranken beschäftigt sich schon seit Jahren mit den Auswirkungen der militärischen Altlasten auf die dort lebenden Menschen – und mit der radioaktiven Strahlung aus dem Atomkraftwerk Grafenrheinfeld. Das AKW nennt er „Leukämieschleuder“. Rund um den Zabelstein, so Pliess, häuften sich die Brustkrebserkrankungen. Wissenschaftliche Studien dazu gibt es aber bisher nicht.
Dafür kämpfen nun der Chefarzt des Klinikums Cottbus, Hans Schweisfurth, und Marion Hahn, deren Gesundheitszustand sich inzwischen stabilisiert hat. Sie hält Vorträge über MCS und beendet demnächst das wieder aufgenommene Enthnologiestudium.
Doch noch immer darf ihr niemand zu nahe kommen, der nach Parfüm oder Rasierwasser riecht oder dessen Kleider weichgespült wurden. Und manchmal erwischt es Marion Hahn immer noch heftig. Vor zwei Wochen etwa geriet sie auf freiem Feld in die Windfahne eines giftspritzenden Bauern auf einem Acker: „Das hat mich glatt vom Rad gehauen.“ Eine Woche lang hat sie sich von dieser „Giftgasattacke“ erholen müssen. Klaus-Peter Klingelschmitt
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