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Kindheit unter Kakerlaken

Flüchtlinge fordern Schließung des Massen-Wohnlochs „Interrast“. Tumult bei Begehung. Besitzer Bartels: Bewohner selbst schuld  ■ Von Silke Mertins

Scheima (10) aus Ägypten und Fardin (9) aus Afghanistan sind so aufgeregt wie der Rest der BewohnerInnen. Der Hamburger Flüchtlingsrat ist mit einem Troß JournalistInnen in das Hotel „Interrast“auf der Reeperbahn gekommen, um sich die Zustände in der Massenunterkunft anzusehen. Jeder will den BesucherInnen die eigenen Zimmer zeigen: die feuchten Wände, den Schimmel, die kaputten Möbel, die Kakerlaken. Sie kommen mit Ungeziefer-Fallen angelaufen: „Sehen Sie mal, gestern aufgestellt und schon voll.“

In Zimmer Nummer „A 42“wohnt Ali Rahmani mit seiner Frau und den beiden Kindern Mazir (5) und Umid (3) auf 15 Quadratmetern. Der Putz bröckelt im Bad von den Wänden, Feuchtigkeit wohin man sieht. „Das Zimmer ist noch gut und auch groß“, sagt Scheima. Sie weiß Bescheid. Seit sechs Jahren wohnt die kleine Ägypterin hier. „Ich war noch nie woanders.“Spielen können sie und die anderen 80 Kinder nur im betonierten Innenhof. Weil es vor dem Hotel nur Peep-Shows und Pornoläden gibt, „dürfen wir nicht raus“.

„Den Kindern dieser Unterkunft ist eine normale Entwicklung verwehrt“, sagt die Psychologin Sabine Skutta, die zusammen mit zwei Kollegen im Auftrag des Flüchtlingsrates hier eine umfangreiche Befragung durchgeführt hat. „Die Hansestadt investiert in Einrichtungen, die die Menschen seelisch und körperlich zerstören.“Eine der befragten Frauen kann zum Beispiel nicht schlafen – aus Angst, Kakerlaken könnten in die Ohren ihres Neugeborenen kriechen.

Zwischen Prostitution und Zuhälterei wohnen zu müssen, war für Schafiqa Azimi ein Schock. Die 53jährige ehemalige Vorsitzende einer afghanischen Frauenrechtsorganisation geht „nur aus dem Haus, wenn ich unbedingt muß“. Einer der Gebäudeeingänge ist direkt neben der „Ritze“; einem Kiez-Etablissement, dessen Eingangstür zwischen zwei gespreizten Frauenbeinen plaziert ist.

Rund 450.000 Mark zahlt der Bezirk Mitte monatlich für die Unterbringung der etwa 700 Flüchtlinge, so der Flüchtlingsrat. „Für diese Summe könnten weitaus bessere Unterkünfte, ja sogar Wohnungen angemietet werden.“„Interrast“-Besitzer Willi Bartels, dem halb St. Pauli gehört, bestreitet vehement, daß er sich an der Unterkunft eine goldene Nase verdient. Nur 19,50 Mark verlange er pro Bett und Nacht. „Das ist günstig“, ruft er inmitten des Auflaufs von Flüchtlingen, Aktivisten und Journalisten.

Daß BewohnerInnen auf einem Schild „Das Interrast muß geschlossen werden“fordern, ärgert ihn ungemein. Die Flüchtlinge hätten das Ungeziefer doch erst „eingeschleppt“. Und „wenn die Leute ihre Zimmer selbst sauber halten würden, wäre es nicht soweit gekommen.“„Lüge“rufen die Flüchtlinge. Es kommt zum Tumult. „Ich möchte mal wissen, wie es bei Ihnen zuhause ausgesehen hat“, schreit Bartels „Interrast“-Geschäftsführer Khaled Braham einen Flüchtling an. „Sie kriegen doch alles vom Staat!“

Bezirksamtschef Rolf Miller (SPD), politisch verantwortlich für diese Unterbringung, ist selbst nicht gekommen. Sein Pressesprecher Gerhold Roch ist der Meinung, „daß wir diese Unterkunft durchaus vertreten können.“Und: Erst in zwei Jahren will der Bezirk das „Interrast“aufgeben.

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