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Der Osten will nicht verachtet werden

Auf die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt reagierte das westliche Establishment der Bundesrepublik beleidigt. Die Wähler bestraften die CDU mit herben Verlusten, die Grünen wurden ignoriert, die PDS konnte sich behaupten, 13 Prozent votierten für die rechtsextremistische DVU – und die SPD gewann hinzu. Tickt der Osten anders, fragt sich der Westen wieder einmal besorgt. Ist er überhaupt demokratisch gefestigt? Ja, sagt der Sozialwissenschaftler Rolf Reißig. Warum das so ist und vorläufig auch bleiben wrd, erklärt er im Interview mit  ■ Jens König und Jan Feddersen

Hat Sie irgend etwas überrascht, was in jüngster Zeit in Ostdeutschland passiert ist?

Nur die Höhe des DVU-Erfolgs in Sachsen-Anhalt. Und der Mut von Reinhard Höppner. Daß er dem Bonner Druck widerstanden und eine Große Koalition verhindert hat – das macht ihn im Osten fast zum Volkshelden.

Im Westen sorgt man sich: Das Kind im Osten ist nicht nur störrisch, sondern auch noch ungezogen. Es macht, was es will.

Ja, weil der Westen den Osten nie wirklich verstanden hat. Das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung. Nehmen Sie als Beispiel Gerhard Schröder. Immer im Westen gelebt, immer nur den Westen reflektiert. Nachdem er Kanzlerkandidat wurde, hat er schnell ein paar Zitate übernommen. Jetzt erzählt er, daß der Osten eine zweite Chance erhalten soll. Aber was sich im Osten wirklich abspielt, davon hat er wenig Ahnung.

Was müßte er denn wissen?

Daß man einem Menschen wie Reinhard Höppner nicht von Bonn aus sagen kann, was er zu tun und zu lassen hat. Jedenfalls nicht bei dessen Biographie. Höppner hat sich vom Diktat der SED befreit, und er sieht dies persönlich auch als Befreiung an. Er kann im Osten seine eigene Politik gestalten, fühlt sich in erster Linie seiner Region verpflichtet, seinem Land, er geht aus den Wahlen gestärkt hervor, er hat der CDU eine eindeutige Niederlage zugefügt, er ist in der letzten vier Jahren mit den Grünen und mit der PDS ganz gut zurechtgekommen – und dann stellt sich Gerhard Schröder einen Tag nach der Wahl hin und sagt: Alles klar, Sachsen-Anhalt braucht eine Große Koalition. Das mußte schiefgehen.

Können Sie Schröder nicht verstehen?

Natürlich verstehe ich ihn, er möchte Bundeskanzler werden. Aber das wird er nur, wenn er begreift, daß es im vereinten Deutschland zwei Teilgesellschaften, zwei Kulturen, zwei Identitäten gibt. Man muß immer beide Seiten verstehen.

Trifft das, was Sie über Schröder sagen, auf den Westen insgesamt zu?

Im Prinzip schon. Der Westen hat die deutsche Vereinigung mit einer Grundannahme vollzogen: Der Osten will schnell Westen werden. Dafür sprach 1990 vieles. Die Menschen hatten die SED gestürzt, sie wollten die Freiheit, die Konsummöglichkeiten, sie haben das Parteiensystem akzeptiert. Aber gleichzeitig wollten sie den Osten im Westen. Sie wollten ihre Biographien respektiert sehen, ihr Anderssein, ihre Eigenständigkeit. Das hat der Westen nicht begriffen. Er dachte, wenn er sein Modell auf den Osten überträgt, reicht das, um die Menschen glücklich zu machen.

Man kann es auch andersherum sehen. 1990 haben die Ostdeutschen den Westen gewollt, sie haben Kohl gewählt – dann sollen sie jetzt auch nicht jammern.

Ich verstehe jeden, für den der Osten ein Rätsel ist.

Vielleicht stimmt das Bild ja doch: Er ist ein undankbares Kind. Egal was man tut, es ist verkehrt.

Man kann eben nicht alle Probleme mit Geld lösen. Durch die finanzielle Alimentierung ist der Osten zugleich entmündigt worden. Er möchte aber gleichberechtigt sein und nicht verachtet werden. Das soziale Bedürfnis der Ostdeutschen nach Anerkennung ist größer, als je vermutet wurde.

Was soll man da anerkennen?

Die Ostdeutschen als Ostdeutsche mit ihrem Für und Wider. Statt dessen setzt man im Westen das Leben in der DDR mit der SED-Diktatur gleich und die SED- Diktatur mit der nationalsozialistischen Diktatur. Diese Gleichsetzung verletzt die Leute. Viele haben in der DDR nicht schlecht gelebt. Die meisten hatten sich irgendwie eingerichtet, haben ein bißchen gemeckert. Und sie haben gesehen, wie Helmut Kohl für Erich Honecker den roten Teppich ausgerollt, wie die SPD über Jahre mit der SED verhandelt hat – und jetzt sollen sie das Büßerhemd tragen. Natürlich müssen wir unsere Geschichte und unser Versagen kritisch aufarbeiten, aber nicht durch Menschen, die das Leben in der DDR nie kennengelernt haben.

Das Ergebnis ist, daß die Menschen im Osten die DDR verteidigen?

Nicht die DDR, sondern ihr Leben. Sie solidarisieren sich sozusagen mit sich selbst. Das wird ihnen immer so ausgelegt, als trauerten sie irgend etwas nach. Ein Irrtum. Der Osten hat sich mehr auf die neue Bundesrepublik eingelassen als der Westen. Die Westdeutschen sind in der alten Bundesrepublik stehengeblieben. Die Ostdeutschen haben sich viel mehr verändern müssen. Heute stehen sie der neuen Bundesrepublik aufgeschlossener gegenüber als die Westdeutschen.

Das deutsch-deutsche Mißverständnis ist doch aber kein einseitiges. Was hat der Osten am Westen nicht verstanden?

Die Ostdeutschen mußten sich umstandslos in einer Gesellschaft zurechtfinden, die sie nicht kannten. Sie wußten nicht, wie die westlichen Gesellschaften aufgebaut sind, welche Institutionen wichtig sind, welche Rolle Parteien, Gewerkschaften, Vereine spielen, wie Interessen artikuliert und Konflikte ausgetragen werden. Ostdeutschen ist die Kultur des Westens fremd. Sich individuell auf die Bundesrepublik einzustellen, das ist den meisten mittlerweile ziemlich gut gelungen. Aber sie haben die westliche Gesellschaft nicht verinnerlicht.

Und pflegen statt dessen antiwestliche Ressentiments.

Vieles von dem, was die Ostdeutschen am Ende der Kohl-Ära wahrnehmen, erinnert sie an früher. Sie erleben die DDR noch einmal, nur spiegelverkehrt. Die CDU hat, wie die SED, vieles versprochen und fast nichts gehalten. Die politische Kultur heute erinnert sie ans Ende der DDR in den achtziger Jahren. Jeder sieht, daß es so nicht weitergeht, aber nichts bewegt sich. Bei Kohl heißt es: Weiter so! Honecker hat auch unbeirrt weitergemacht. Wenn die Ostdeutschen so etwas hören, werden sie leicht aggressiv.

Was ist eigentlich der Osten? 13 Prozent DVU? 20 für die PDS? Rechtsextremismus als Alltagskultur? Nur ein Drittel demokratisch gesinnt?

Der Osten ist gemessen an der gesamten Bundesrepublik ein spezifischer Sozial- und Kommunikationsraum. Insofern ist er eine relative Einheit. Das ist allerdings der einzige Nenner, auf den der Osten noch zu bringen ist: Er unterscheidet sich vom Westen. Ansonsten ist er in sich differenziert.

Es gibt den einen Osten gar nicht mehr?

Nein, er ist zweidimensional. Wir haben in Ostdeutschland eine kulturelle Mehrheit links von der CDU und zugleich ein wachsendes rechtsextremes Potential.

Wo liegen die Ursachen für diese Unterschiede zum Westen? Alles Hinterlassenschaften der Diktatur?

Das hat Richard Schröder geschrieben. Ich bin entsetzt, wenn ich das lese, Stephan Hilsberg sagt ähnliches. Ehemalige Bürgerrechtler und Oppositionelle der DDR reduzieren die Ursachen für die Rechtsentwicklung und alles andere, was ihnen am Osten nicht gefällt, viel zu sehr auf die SED-Diktatur. Natürlich hat die Diktatur in der DDR Menschen seelisch verkrüppelt, wie Schröder im Spiegel schreibt, und sie damit für Rechtspopulismus anfällig gemacht. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Bei den Bürgerrechtlern kommt wieder so ein elitäres Bewußtsein zum Vorschein. Deswegen konnten sie auch niemals mehrheitsfähig werden. Die Oppositionellen – Hochachtung vor ihnen – sahen sich immer im bewußten Gegensatz zur Mehrheit der Ostdeutschen.

Das Volk ist doof?

Natürlich, vom Hochsitz des Weltgeists aus betrachtet. Was jetzt auch erneut bewiesen wird: 13 Prozent wählen DVU.

Und nun sollen sich die Ostdeutschen einem demokratischen Erziehungsprogramm unterwerfen.

Frau Noelle-Neumann, die Allensbacher Meinungsforscherin, hat das vor Jahren als erste gefordert. Sie schrieb an Helmut Kohl: Wir brauchen keinen Finanztransfer von West nach Ost, sondern einen Ideologietransfer, denn die Ostdeutschen sind diktatorisch sozialisiert. Sie verstünden weder Demokratie noch Rechtsstaat und wüßten schon gar nicht, was Freiheit ist. Die gleichen Argumente tauchen bei Bürgerrechtlern (aber nicht nur bei ihnen) jetzt wieder auf.

Was haben Sie gegen eine Bildungsoffensive im Osten?

An sich nichts. Aber so, wie diese Forderung vorgebracht wird, ist es die Fortsetzung der westdeutschen Bevormundung mit anderen Mitteln. Hier wird nur ein Schlagwort durch ein anderes abgelöst, ansonsten bleibt alles beim alten. Bonn wechselt lediglich seine Instrumentarien.

Aber nach 1945 hatten die Amerikaner in Westdeutschland doch auch Erfolg mit ihrer Demokratisierung.

Das Problem liegt doch nicht darin, daß der Ostler nicht in der Lage ist, Demokratie zu verstehen. Die Demokratie muß attraktiver und wahrnehmbarer werden. Dafür müssen die inneren Grundlagen erst noch geschaffen werden: Der Osten braucht mehr als Finanztransfers und das westliche Parteiensystem, er braucht eigene Entwicklungspotentiale, regionale wirtschaftliche Kreisläufe, andere Formen der demokratischen Mitbestimmung, die Kommunen und Länder brauchen mehr Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung.

Wenn Sie sagen, die Deformationen durch die Diktatur seien nur ein Teil der Wahrheit – was ist dann der andere Teil?

Die DDR-Bürger sind auch in der Gesellschaft geformt worden, und es hat mehr Gesellschaft gegeben, als auf den ersten Blick wahrgenommen wird. Es gab kulturelle Milieus, alternative Gruppen, Reformsozialisten, private Nischen, informelle Netzwerke, es gab darin auch teilweise Emanzipationsbestrebungen. Ich habe was gegen diese einseitige Darstellung, im Osten hat es keine zivile Gesellschaft gegeben und deswegen wird dort jetzt die DVU gewählt. Natürlich war die Zivilgesellschaft in der DDR geringer ausgeprägt als in Polen oder Ungarn. Aber die Gesellschaft war doch kein SED-Abziehbild. Sonst wäre es 1989 nicht zu Massendemos gekommen. Und sonst hätten DDR-Soziologen nicht feststellen können, daß es bei den Jugendlichen lange vor der Wende einen Wertewandel gegeben hat. Diese Ergebnisse des Leipziger Instituts für Jugendforschung sind bis heute unbestritten: In den achtziger Jahren gab es in der DDR eine Umorientierung hin zu postmaterialistischen Werten wie Individualisierung und Selbstbestimmung.

Also eine Verwestlichung.

In diesem Sinne: ja. Das war eine Voraussetzung für den Sturz der SED. Bevor die DDR wirtschaftlich und politisch zusammengebrochen ist, war sie in ihrer inneren Verfaßtheit bereits entlegitimiert. Das spricht gegen die These, daß allein das System die Menschen in der DDR sozialisiert hat.

Aber unbestritten ist doch auch, daß die DDR eine kollektivistische Gesellschaft war, die die Menschen vor allem autoritär geprägt hat. Sie wollen uns doch nicht erzählen, daß die 13 Prozent für die DVU damit nichts zu tun haben.

Natürlich nicht. Die Ostdeutschen sind im Durchschnitt viel stärker autoritär orientiert als die Westdeutschen. Es gab für sie kein 1968, auch keine echte Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und seiner gesellschaftlichen Verankerung. Das sind Defizite, das macht Ostdeutsche für die DVU-Propaganda anfällig. Schnelle Lösungen, der Ruf nach der starken Hand, das Schüren von Vorurteilen – das kommt im Osten durchaus an. Die Ursachen dafür liegen auch in der Art, wie in der DDR Interessen artikuliert worden sind: Das meiste wurde nach oben delegiert, an den Staat, an die Parteien, an die Politik. Das wirkt bis heute nach, ebenso wie das Denken in Freund-Feind-Kategorien. An all dem trägt die SED, trägt die DDR Schuld. Aber damit alles erklären zu wollen, halte ich für falsch.

Der Befund im Westen lautet: Der Osten bricht weg, er ist demokratisch nicht belastbar. Teilen Sie die Einschätzung?

Ich formuliere seit langem die These, daß der Osten wegbricht – aber nicht bezogen auf seine demokratischen Einstellungen. Er bricht wirtschaftlich und sozial weg. Wir haben gegenwärtig nicht nur keine blühenden Landschaften, sondern einen größeren Rückgang wirtschaftlicher Potentiale im Osten als im Westen. Es gibt also nicht nur keine Angleichung, sondern der Ost-West-Abstand wird größer.

Damit ist die andere Frage noch nicht beantwortet: Ist die demokratische und bürgerliche Kultur des Ostens nicht genügend gefestigt?

Das ist mir zu einseitig. Richtig ist, daß die Ostdeutschen, zugespitzt gesagt, ein anderes Demokratiemodell bevorzugen – im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie. Aber nur weil es sich vom westdeutschen Modell unterscheidet, muß es noch lange nicht schlechter sein oder gar ein demokratisch minderbemitteltes.

Worin liegen die Unterschiede?

Der ostdeutsche Wertehaushalt ist ein sozialdemokratischer. Nicht parteipolitisch betrachtet, sondern verstanden als eine soziale und demokratische Orientierung im klassischen Sinne. An vorderster Stelle stehen folgende Werte: Gerechtigkeit, soziale Gleichheit, Gemeinschaftlichkeit, mehr direkte Demokratie sowie eine stärkere Verankerung der sozialen Grundrechte im politischen System. Das sind keine von vornherein negativ zu belegenden Werte.

Geht diese Wertorientierung quer durch alle Schichten?

Ja, auch die ostdeutschen Eliten denken so. Sie wählen zu 66 Prozent SPD, Grüne und PDS, während 60 Prozent der Eliten im Westen CDU wählen. Interessant ist, daß im Osten die Anhänger von CDU, SPD und PDS mehr gemein haben als die Ost- und Westwähler von CDU und SPD. Diese Besonderheiten des Ostens sind es, die die Bundesrepublik beleben. Durch die Ostdeutschen und ihre neuen Eliten entwickelt sich eine größere Pluralität.

Das sehen die meisten im Westen aber ganz anders.

Einer der bekannten westdeutschen Soziologen, Stefan Hradil, hat sich kürzlich selbst revidiert. Entgegen seiner bisherigen Einschätzung sagte er, die Werte, die die Ostdeutschen für den Umbau der modernen Industriegesellschaften mitbringen, könnten ein Kulturvorteil gegenüber dem Westen sein. Der Osten ist sozusagen transformationsfähig.

Und der Westen nicht? Jahrhundertelang stand er für Freiheit und Individualität ein – jetzt hängt ihn der Osten auf dem Weg ins nächsten Jahrtausend ab? Ist das Ihr Ernst?

Neben der Individualisierung spielt Gemeinschaftlichkeit im Übergang zum nächsten Jahrtausend offensichtlich wieder eine größere Rolle, als wir alle vermutet haben. Schauen Sie sich die Debatte in den USA über Kommunitarismus, Gemeinsinn und zivile Gesellschaft an. Es geht aber auch gar nicht um ein Gegeneinander der verschiedenen Werte. Der Westen ist stärker an Individualisierung orientiert, an Markt, auch an Marktradikalismus, und der Osten an Staat und sozialer Gerechtigkeit – das muß sich miteinander mischen und gegenseitig bereichern.

Ist der Osten antiwestlich – antimarktwirtschaftlich, antidemokratisch, antipressefreiheitlich, wie der frühere Bürgerrechtler Stephan Hilsberg sagt?

Ich würde das positiver formulieren. Gerecht, modern, gemeinsam. Der Osten bevorzugt einfach andere Werte.

Aber er lebt doch seine antiwestlichen Vorurteile aus – was ist daran modern?

An Ressentiments natürlich nichts. Die antiwestlichen Befindlichkeiten sind für den Osten tatsächlich eine große Gefahr. Sie dürfen sich nicht verfestigen.

Aber im Moment zieht sich der Osten auf sich selbst zurück.

Das Ostdeutsche darf nicht zur Hülle werden, mit der man sich vor Kritik und Selbstkritik schützt, auch was die eigene Vergangenheit betrifft. Der Osten muß sich öffnen und sich nicht als geschlossenes Gebilde gegen den Westen behaupten wollen. Sonst wird er wirklich zur gesellschaftlichen Peripherie. Der eigene Attributionsstil, das sogenannte Antiwestliche, sollte als ein positiver Impuls verstanden werden. Die einzelnen Gruppen im Osten müssen Gemeinsamkeiten mit den adäquaten Gruppen im Westen suchen. Es müssen sich neue Ost-West-Interessenskoalitionen bilden, dann wird's spannend.

Die Schriftstellerin Monika Maron behauptet, in der Gleichsetzung aller Ostdeutschen mit den Verlierern der Einheit und aller Westdeutschen mit den Siegern liegt die Mißinterpretation des Ost-West- Konflikts. Es gebe viel mehr Ost-Ost-Probleme.

Natürlich ist der Osten keine einheitliche Gesellschaft mehr. Er differenziert sich politisch, kulturell, mental. Es gibt Gewinner und Verlierer. Aber die spezifische Vereinigungspolitik hat zur Folge, daß diese Unterschiedlichkeiten nur unzureichend zum Tragen kommen. Die Probleme im Osten selbst werden erst dann richtig ausgetragen, wenn die Probleme mit dem Westen in den Hintergrund treten. Dann werden endlich die gemeinsamen Problemlösungen dominieren.

Das wird dauern.

Weil die Spaltung in Ost und West eine strukturelle ist. 95 Prozent des durch die Treuhand privatisierten ostdeutschen Eigentums ist heute in Westhänden. Die Eliten des Ostens sind gesamtdeutsch völlig unterrepräsentiert. In der Wirtschaft und im Militär gibt es in Führungspositionen null Prozent Ostdeutsche, in der Verwaltung drei Prozent, in der Justiz zwei Prozent, in der Wissenschaft sieben Prozent. Der West-Ost-Konflikt überlagert die Ost-Ost-Probleme.

Ist das die Überlebensgarantie für die PDS?

Nur bedingt. Die politische Klasse hat die gesellschaftliche Spaltung erneut vollzogen. Sie hat Ressentiments gefördert und die alten Funktionseliten der DDR pauschal ausgegrenzt – das hat die PDS zunächst stark gemacht.

Reicht das schon aus, die PDS zu legitimieren?

Die PDS erfüllt eine Aufgabe. Sie integriert nicht nur alte Kader, sondern auch Reformsozialisten, die nicht wegen, sondern trotz Honecker in der SED waren. Beide Gruppen sind von allen anderen Parteien ausgegrenzt worden. Die PDS ist sozusagen ein geschichtliches Produkt der deutschen Vereinigung.

An der die anderen noch lange ihre Freude haben werden?

Mit Sicherheit. Ihre Wähler kommen inzwischen aus allen sozialen Schichten und Generationen. Mittelfristig bleibt die PDS im Osten die drittstärkste Partei, in einigen Bundesländern kann sie sogar noch auf Platz zwei rücken. Sie ist in den Kommunen und Ländern fest verankert. Sie hat zumindest an der Parteispitze reformorientierte Leute, die in der Öffentlichkeit akzeptiert werden. Sie ist keine Protestpartei mehr. Früher oder später wird sie mitregieren und für die Politik im Osten Mitverantwortung übernehmen müssen. Lassen die anderen Parteien sie in der Opposition, hat die PDS in ein paar Jahren im Osten 30 Prozent.

Welche Zukunft hat die PDS denn überhaupt?

Längerfristig scheint ihre Perspektive eher offen. Die PDS könnte zu einer Regionalpartei des Ostens werden, obwohl das heute schwieriger ist als noch vor zwei, drei Jahren. Die anderen Parteien, insbesondere SPD und CDU, haben den Osten mittlerweile auch entdeckt. Die PDS hat nicht mehr das Monopol, Anwalt der ostdeutschen Interessen zu sein. Ihr weiteres Schicksal hängt davon ab, ob sie im Osten Zugang zur jüngeren Generation findet und zudem eine gesamtdeutsche demokratische linke Partei wird. Das wird schwer, denn die PDS ist genuin ostdeutsch und nicht linkssozialistisch im modernen Sinne.

Wie sollte sie sich definieren, um Erfolg zu haben?

Jedenfalls nicht als Systemopposition, sondern als Teil einer Opposition, die die Reformblockaden aufbricht und die Gesellschaft in diesem Sinne verändert. Sie sollte die ostdeutschen Themen positiv wenden und als gesamtdeutsche Themen problematisieren. Sie muß in der Bundesrepublik ankommen und dabei die moderne westliche Gesellschaft kritisch annehmen.

In vielen Ländern Europas – Frankreich, Dänemark, Italien – gehören Parteien links von der Sozialdemokratie zur Normalität. Nur in Deutschland löst dies bis weit in die SPD hinein Schrecken aus. Muß das so bleiben?

Bei uns wird es möglicherweise zu Verschiebungen im Parteiensystem kommen. Wenn die SPD weiter in die Mitte rückt und die Grünen die Partei des aufgeklärten Bürgertums werden, dann könnte eine grundlegend erneuerte PDS um den links frei werdenden Platz streiten. Die Grünen haben momentan im Osten keine Chance – der elitäre Gestus vieler Grüner, immer alles besser zu wissen als die anderen, ist nicht gerade populär.

Hätte sich der Westen den ganzen Ärger mit dem Osten ersparen können, wenn er sich nach der Vereinigung 1990 auf die Diskussion einer gemeinsamen neuen Verfassung eingelassen hätte?

Das wäre ein ernsthafter Versuch gewesen, die Ostdeutschen in die gesamtdeutsche Gesellschaft gleichberechtigt zu integrieren. Der Fehler ist nicht wiedergutzumachen. Aber die weitere Gestaltung der Einheit des Landes bleibt offen.

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