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Schulterschluß im Konjunktiv

Das Berliner Treffen zwischen Jürgen Habermas und Gerhard Schröder nahm das alte Stück „Geist meets Macht“ wieder auf. Praktisch visionsfrei, aber mit erschütterndem Unterhaltungswert. Es hilft nichts: Dies hier ist „amerikanischer Wahlkampf“  ■ Von Thomas Groß

Am Anfang war auch hier nicht das Wort, sondern das Bild. Kaum haben die beiden Hauptprotagonisten das Willy-Brandt-Haus geentert, umringen auch schon Trauben von Fotografen sie zu einem „Shooting“, wie das zeremonielle Ablichten zur Versorgung der Öffentlichkeit mit Bildmaterial heißt. „Shootings“ haben die sympathische Eigenschaft, unvermittelt und gierig zum Kern einer Sache vorzudringen. Gleich wird Wolfgang Thierse zu einer intellektuell anspruchsvollen Begrüßung ansetzen, vier Stunden Programm stehen bevor, aber hier, im „Blitzlichtgewitter“, hat man schon mal krude, fast pornographisch, worauf's ankommt. Die Tatsache, daß: Habermas meets Schröder. Das will ich sehen!

Daß es sich bei dem Treffen um die Inszenierung einer Begegnung handelt, einer Talkshow oder Pressekonferenz der Rolling Stones zwangsläufig artverwandt, daß die angemessene Berichtsform weniger der knallharte Politkommentar als die beschreibende Eventkritik sein wird – die Kreise, die sich an diesem Freitagmorgen unter dem klingenden Motto „Die Einbeziehung des Anderen. Für eine inklusive Politik“ eingefunden haben, sind aufgeklärt genug, das vorauszusetzen. Gegeben wird eine Wiederaufnahme des alten Stücks von der Begegnung zwischen Macht und Intelligenz. Es sind junge Menschen erschienen! Einige sogar gepiercet. Man darf nicht rauchen, aber locker auf dem Boden sitzen („Teach-in“?).

Ein meterlanger Büchertisch gibt einen Vorgeschmack auf die zu erwartende SPD-Geisteskultur. Neben nahezu mythischen Willy- Folianten, Nachgeborenem von Stolpe und Schorlemmer (signiert!) künden die Untertitel von „angewandter Ethik“, „Bereichsethik“, der „Logik kollektiver Entscheidungen“. Ein einzelner Band über Feminismus und Geschlechterdifferenz beweist, daß man auch solche Dinge im Auge hat. Tonnen von Habermas werden mit ganz wenig Schröder aufgewogen, darunter auch das noch in den Hillu- Jahren spielende „geheime“ Schröder-Tagebuch des Satirikers Henning Venske: „Es gab Broccoli mit Gorgonzola überbacken. Habe mir heimlich im Garten mit dem Hund ein Bifi geteilt.“ Das ist doch lustig! Kohl hätte so was in seinem Machtbereich nicht geduldet.

Die Anmutung von Sehnsucht, die in der Luft liegt, muß damit zu tun haben, daß bestimmte simple Dinge des Lebens wie Ironie, Mehrstimmigkeit, Artikulations- und Einfühlungsfähigkeit so lange so schmerzlich vermißt wurden, oder sagen wir besser: keine angemessene Repräsentanz fanden. Die letzte medial signifikante Geste einer Berührung zwischen Geist und Macht auf deutschem Boden war Kohls Einkehr bei Ernst Jünger – eine Rosenzüchterphantasie aus dem 19. Jahrhundert. Wohl deshalb fällt es zunächst kaum auf, daß Habermas, nachdem er das Podium erklommen hat, das SPD-Krisenmanagement-Programm eigentlich in Grund und Boden rammt. „In der politischen Öffentlichkeit entfalten die Konflikte, die sich heute auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene abzeichnen, ihre beunruhigende Kraft vor dem Hintergrund eines normativen Selbstverständnisses, wonach soziale Ungleichheit und politische Unterdrückung nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich produziert – und deshalb grundsätzlich veränderbar sind.“ Was für eine Eröffnung! Der Satz geht aufs Ganze, reißt umstandslos den gesamten Abgrund auf, über dem die Veranstaltung schwebt; er zitiert Marx' Vorstellung vom Fetischcharakter gesellschaftlicher Einrichtungen („Es kömmt aber darauf an...!“), es hallt noch etwas vom Erzklang älterer Produktionsverhältnisse in ihm nach; zugleich aber spannt er den Bogen in freier Parataxe hin zur Globalisierung, Technisierung, zum Weltmarkt.

Das ist der unnachahmliche Habermas-Sound, gemischt aus Old- School-Elementen der Kritischen Theorie und pragmatisch-nüchternen, „amerikanischen“ Analysen. Und dann kommt es knüppeldick. Unter dem Druck der Globalisierung sei den nationalen Regierungen die Fähigkeit zur politischen Einflußnahme abhanden gekommen – so der Kern der Ausführungen über „die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie“. Längst sei ein transnationaler Liberalismus entstanden, der territorial nicht mehr reguliert werden kann. Der Entleerung einer Politik, die auf den „Politikwechsel“ zusammenschrumpft, entspreche beim Wähler die bedenkliche Bereitschaft, „persönliche Ausstrahlung“ zu quittieren. Daher die Konjunktur politischer Nullslogans („It's time for a change“) und würdeloser Populisten.

Schluck! Blicke auf Schröder, der sich mit verschränkten Armen anhört, was das Dilemma der „politischen Akteure“ ist. Habermas faßt es in das nahezu psychoanalytische Bild vom Territorialherrn, dem die Kontrolle über die eigenen Grenzen entglitten ist. Er kann nur noch rhetorisch auf die Krise reagieren.

Genau das tut Schröder in seinem anschließenden Vortrag. Der intellektuelle Abfall zum Vorredner ist enorm, das Bauchreden um so schlagender. Sofort hat er den Gegenstand aus der Komplexität der Analyse in die Tiefe des Credos herabgezwungen, wo er ihn hin- und hertändelt. „Ich glaube aber...“, „Ich bin der Überzeugung...“, „Wir laufen Gefahr, wenn wir nicht...“ – schon sind 10 Minuten um. Schröder sagt eigentlich bloß, daß alles so schlimm schon nicht sein wird, versieht dies allerdings kunstvoll mit dem Odeur des Homme de lettres. Eine Art Chamäleoneffekt. Ohne mit der Wimper zu zucken, spricht er von „supranationalen politischen Einheiten“, droppt im geeigneten Moment Namen (Dahrendorf, Richard Löwenthal), plädiert für eine Erneuerung des „Bündnisses für Arbeit“, rückt die Wahlen von Sachsen-Anhalt ins rechte Licht („nicht Anlaß zu übermäßiger Bewertung“), weiß aber natürlich auch um die geschichtliche Bürde Deutschlands: „Die Jahre der Naziherrschaft sind nicht spurlos an uns vorübergegangen...“

Wahrscheinlich ist das alles ganz normal. Wahrscheinlich muß das so sein, wenn man Kanzler werden will. Die Gelegenheit, einmal auf fünf Meter an den Kandidaten heranzukommen, „live“ und am Stück Schröder-Daten in sich reinzusaugen, ergibt den verblüffend banalen Befund, daß jedes Klischee über ihn wahr ist. Er ist die mediale Persönlichkeit. Es macht keinen Unterschied, ob er die „Tagesthemen“ mit Slogans bespielt oder das Atrium des Willy-Brandt-Hauses, und den Segen des Bronze- Brandts im Hintergrund nimmt er für gratis.

Geschundene Bonn-Korrespondenten, die Tag für Tag Schröder-Reden auf Inhalte absuchen müssen, haben ihm vorgerechnet, daß sein „reales“ Maß nicht bei 1,86, sondern höchstens bei 1,75 Metern liegt, aber physische Größe spielt nicht die geringste Rolle bei dieser ohnehin aufs Abbild gerichteten Performance. Gedanken noch weniger. Dafür ist der mediale Riesenfokus geradezu körperlich zu spüren, der auf Schröders Erscheinung gerichtet ist, und er selbst weiß es am besten, antwortet mit der Art, wie er die Hand lässig in der Tasche versinken läßt (englischer Anzug, natürlich), wieder hervorzaubert und damit die Andeutung einer Vision in die Luft schreibt. Es ist schrecklich. Es hat was. Es hilft nichts: Dies hier ist „amerikanischer Wahlkampf“. Alle wissen das, und alle wollen im Grunde bloß sehen, ob die Klaviatur bespielbar ist, das Programm „Geist & Macht“ trägt, der „Niedersachse“ der Philosophenlegende gegenüber seine Inszenierung durchhält.

Zur Umarmung kommt es nicht. Doch Habermas, der Kühle, hätte sich gar nicht erst auf die Show eingelassen, führte er den Eklat im Schilde. Als die Begegnung die freie Form der Aussprache annimmt, ist die Sache im Grunde gelaufen. Die Legende sagt zwei Sätze, die alle mitschreiben: „Ich säße nicht hier, wenn ich nicht einen sozialdemokratischen Wahlsieg wünschen würde.“ Und: „Gerhard Schröder ist es zuzutrauen, daß er Menschen zusammenführen kann.“ Na also, geht doch! Aber wie dünnlippig das rüberkommt, wie durch und durch auf dem Boden pragmatischer Rationalität gewachsen! Es muß sich um eine Erscheinungsform von „Bereichsethik“ handeln. Ein Schulterschluß im Konjunktiv, geboren aus der Erkenntnis, daß schlichtweg kein besserer da ist, der den Laden schmeißen könnte, zumindest kein „mehrheitsfähiger“. Nehmen wir halt den Territorialherrn! Nein, diese in den Block diktierte Wahlempfehlung hat so überhaupt nichts von alter Willy- wählen-Euphorie, lustigem Mehr- Demokratie-wagen-Zirkus, barock inszeniert von Großschriftstellern mit Seehundbärten. Es liegt etwas Preußisches darin, ein Touch von Staatsphilosophie, der schlechten Realität auf dem Vernunftwege abgerungen. Vielleicht klingt so „Berliner Republik“. „Das Wirkliche ist vernünftig, und das Vernünftige ist wirklich“, wird Oskar Negt am Nachmittag nur halb ironisch Hegel zitieren. Doch da ist Schröder längst enteilt. „Termine“.

Und was war nun mit der „inklusiven Politik“? Jetzt, ohne den Kandidaten, hätte man doch endlich frei über die „Einbeziehung des Anderen“ diskutieren können – und tat es sogar. Schwungvolle Reden auf interessant besetztem Podium. Negt läuft zu Form auf, entwirft aus dem Stegreif ein Pro- SPD-7-Punkteprogramm. Die feministische Forscherin Seyla Benhabib differenziert den Begriff des „Fremden“ und verweist auf positive Erfahrungen in Dänemark und anderswo. Demonstranten entrollen ein Transparent gegen das geplante Asylbewerberleistungsgesetz.

Doch irgendwie bleiben das alles Gespräche über den abwesenden Herrn S. Der Moment, in dem der Glamour erlischt, ist immer verblüffend. Die Fotografendichte sinkt schlagartig. Die Blitzberichter eilen davon. Schröder has left the building.

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