■ Wolfgang Schäuble will nicht länger Kronprinz sein: Konsequenter Rückzug
Vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble, ist bekannt, daß er nichts gern dem Zufall überläßt. Schon gar nicht seine Karriere. Es ist folglich nicht anzunehmen, daß seine Frau Ingeborg ohne seine Einwilligung dem Stern gegenüber erklärt hat, er solle nicht Kanzler werden und sie habe große Bedenken, daß der Öffentlichkeit das Bild eines Kanzlers im Rollstuhl zu vermitteln sei. Diese Bedenken hatte Schäuble eineinhalb Jahre zuvor ebenfalls im Stern offensiv aufgegriffen, um zu dem entgegengesetzten Schluß zu kommen. Er könne der Versuchung wohl nicht widerstehen, lautete damals seine Antwort.
Welch tektonische Wirkungen solch privat gehaltenen Äußerungen entfalten können, weiß jeder in der Union spätestens seit Waigels flapsig hingeworfenem Überdruß an seinem Amt. Es ist nicht vorstellbar, daß Schäuble ein ähnlicher Fauxpas unterlaufen ist. Es ist allerdings vorstellbar, daß er genug hat von einer Kronprinzenrolle, die sich nicht mehr erfüllen wird. Schäuble wird nicht mehr Kanzler werden. Wer ihn in der letzten Zeit erlebt hat, wer die professionelle Lustlosigkeit sah mit der er das Wahlprogramm vorstellte, der spürt, daß diese Befürchtung bei ihm selbst zur Gewißheit geronnen ist.
Der ihn zum Kronprinzen ernannt hat, hat alles getan, um einen Stabwechsel unmöglich zu machen. Bereits als Helmut Kohl im letzten Oktober die Öffentlichkeit wie seine Partei mit der Ankündigung überraschte, daß Schäuble sein Nachfolger werden soll, waren Zweifel an der Lauterkeit dieses Wunsches laut geworden. Als wenig später Kohl die Amtsübergabe auf das Jahr 2002 datierte, steigerten sich diese Zweifel zum fundierten Mißtrauen. Weitere fünf Jahre als die Nummer zwei gehandelt zu werden, hätte Schäuble demontiert, zumal er beim Einzug ins Kanzleramt bereits sechzig Jahre alt gewesen wäre.
Diese Demontage abzuwenden, hätte bedeutet, den Stab früher zu übergeben. Es hat mehrere Anläufe gegeben, Schäuble als zweite Spitze in den Wahlkampf zu schicken. Kohl hat diese Versuche vereitelt. Es sollte nur auf den Kanzler ankommen. Nun kommt es nur auf ihn an, und die CDU sieht so hilflos einer Niederlage entgegen wie selten in ihrer Geschichte. In einer solchen Situation verstört die Debatte um die Personalie Schäuble allein schon, weil sie als weiteres Indiz für die Instabilität der Union genommen wird. Daher rührt der Unmut der CSU über das Interview Ingeborg Schäubles, auch wenn ein gut Teil der Christsozialen deren Zweifel an der gesellschaftlichen Akzeptanz der Behinderung ihres Mannes teilt.
Geht die Union in die Opposition, bleibt Schäuble Fraktionsvorsitzender. Damit wäre er nicht der Favorit für die Wahlen im Jahre 2002, denn dann würden sich die Gewichte der Partei wieder auf die Landesverbände verlagern. Eine Kandidatur aus dem Kreis der fälschlich jung und wild Genannten wäre wahrscheinlich. Auch die SPD rekrutierte in den achtziger Jahren ihren Spitzenkräfte aus den Ländern.
Geht die Union eine Große Koalition mit der SPD ein, braucht sie einen Mann an der Fraktionsspitze, der zwischen der Eingebundenheit in die Regierung und den zentrifugalen Kräften am Rand ausgleicht. Die Union ist im Kreis der europäischen Christdemokratie eher ein Ausnahmephänomen. Ihrer Schwesterparteien haben schon vor Jahren die Hegemonie über das bürgerliche Milieu verloren. Ein Schicksal, das der CDU nicht nur wegen der in die Mitte drängende SPD droht. Ihr fehlt in Kernfragen der Arbeitsgesellschaft und der europäischen Integration eine klare Orientierung. Schäuble ist der strategische Kopf der Union, der die unterschiedlichen Milieus der Partei binden kann. Er kann auf der nationalen Klaviatur spielen, wo nötig, und zeigt sich zukunftsorientiert, wo möglich. Er kann die Union programmatisch auf die Zeit nach der Jahrtausendwende vorbereiten.
Womöglich war seine ideale Rolle nie die eines Kronprinzen, womöglich wird er für die Union das bewerkstelligen, was einst Herbert Wehner für die SPD leistete. Er muß deshalb ja nicht gleich so grantig werden wie jener. Dieter Rulff
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