: Nachkolorierte Erinnerungen
„Besuchen Sie die Drehorte von Schindlers Liste“. Das jüdische Viertel Kazimierz in Krakau wandelt sich zum neureichen In-Viertel: das Grau der dreißiger Jahre neben dem Schick der Designerläden ■ Von Folkert Lenz
„Als ich das erste Mal wieder hier war, habe ich meine eigene Stadt fast nicht mehr erkannt.“ Selbst unser polnischer Begleiter Bogumil zeigt sich beeindruckt vom Wandel der Innenbezirke Krakaus: Baugerüste allerorten, immer wieder steigt der herbe Geruch von Mörtel und frischem Fassadenanstrich in die Nase. So ist unser Spaziergang auch für ihn so etwas wie ein historischer Rundgang. Bogumil hatte sich noch vor der Wende in Polen Richtung Deutschland abgesetzt: Der Wunsch nach Geld und die Hoffnung auf eine Ausbildung hatten ihn in die ungewisse Zukunft im Westen gelockt.
Über seine Jugend in der Stadt an der Weichsel befragt, antwortet der junge Student: „Grau, ja grau war alles, wenn ich zurückdenke.“ Ein bißchen scheinen ihn die vielen bunten Farben der Werbetafeln, der neugebauten Häuser, der restaurierten Wände zu erschrecken. Wer läßt sich schon gerne die Bilder seiner Erinnerung nachkolorieren? „So geht einem die Kindheit flöten“, konstatiert Bogumil jetzt bei unserem Besuch.
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Um mehr als ein halbes Jahrhundert zurückversetzt fühlt sich, wer die Ulica Jozefa im nahegelegenen Kazimierz-Quartier betritt: Wie Patina hat sich das Schwarz jahrzehntelangen Kohleofenrauchens über das Haus mit der Nummer 42 gelegt. An der schmucklosen Fassade verblassen die Reste hebräischer Lettern auf schmutzig-weißem Hintergrund. Sie künden davon, daß sich in diesem Quartier einst das Zentrum jüdischen Lebens in Krakau befand. Davidsterne zieren den Zaun der alten Synagoge am Ostende der Straße. Es braucht nur wenig Phantasie, sich vorzustellen, daß im nächsten Moment ein ehrwürdiger, greiser Rabbi um die Ecke biegt. Der Gang durch Kazimierz wird zu einem Gang zurück in die Geschichte – die polnische wie die deutsche. Daran ändert auch die Schar herumtobender Kids im Streetball-Look mit Baseballmütze nichts. Nicht umsonst wählte der Regisseur Steven Spielberg wohl genau diese Szenerie als Drehort für seinen Kassenschlager „Schindlers Liste“: Aufwendige Kulissen waren kaum nötig, das trostlose Flair der dreißiger Jahre ist bis heute unbeschadet erhalten geblieben.
Bröckelt dem Betrachter heute manches Relikt der vergangenen Zeit entgegen, so hat die jahrhundertelange jüdische Tradition des Stadtteils den Lauf der Dinge nicht unbeschadet überstanden, auch wenn sie noch überall präsent ist. Doch in jüngster Zeit zeigt man sich bemüht, diese Epoche nicht der Modernisierung anheimfallen zu lassen: Mehrere jüdische Einrichtungen und Institute haben sich niedergelassen, das jüdische Gedenkmuseum erfreut sich vermehrten Andranges. Ein traditionelles Gebetshaus erwachte durch das angeschlossene Café und eine Galerie zu neuem Leben. Zwei fein herausgeputzte jiddische Restaurants auf dem zentralen Platz, der Ulica Szeroka, wirken neben den verlassenen Wohnruinen ringsumher wie aus dem Ei gepellt.
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Dabei mag Kazimierz eigentlich mehr Symbol für die Vertreibungsgeschichte der Juden sein. Das spätere Krakauer Viertel wurde 1335 auf Initiative von Kasimir dem Großen gegründet. Schon 1495 zwang man die jüdische Gemeinde Krakaus, seinerzeit eine der bedeutendsten Europas, in das damalige Vorstädtchen im Weichselbogen umzusiedeln. Und noch einmal hatte die Gemeinde zu leiden, nämlich die drei Folgejahre ab 1655 unter den schwedischen Invasoren. Danach gewann sie ihre vorige Größe langsam zurück. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings erhielten die Juden wieder das Recht, auch außerhalb des „Schtetl“ zu wohnen.
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Unser Führer Bogumil zieht uns weiter: Vorbei geht es nun an Katharinen- und Paulinenkirche, heraus aus dem Viertel. Ein paar Schritte den Fluß stromaufwärts geschlendert, und schon landen wir vor dem Wahrzeichen der Weichselmetropole: Kinderscharen toben dort, Kameras klicken, Flaneure drängeln sich in Richtung Rynek Glowy, des Marktplatzes. Der Weg dorthin führt durch sanierte Prachtstraßen. Hier hat der Ausverkauf des alten Krakau schon begonnen: Boutiquen, Elektronikläden und die unumgänglichen Filialen amerikanischer Burger- und Pizza-Konzerne locken das Publikum auf der Einkaufsmeile. Doch welches nur?
Das alte Mütterchen, das in der Plastiktüte verstohlen einige selbstgestrickte Pullover den Passanten feilbietet, gehört sicher nicht dazu. „Laßt mich endlich in Ruhe“, beschimpft die Frau in dem schäbigen Flanellrock und der dick wattierten Steppjacke die beiden Gendarmen, die sie zum wiederholten Male nach ihrer Händlerkonzession fragen. „Habt ihr denn wirklich nichts anderes zu tun, als uns zu nerven“, überzieht sie die Gesetzeshüter mit ein paar derben Flüchen, bevor sie eilig von dannen zieht. Das Spielchen wiederholt sich noch einige Male, bis sie endgültig Reißaus nimmt.
Das Ringen darum, wer legal Taubenfutter, Coca-Cola oder russische Püppchen an den Mann bringen darf, fordert seine Opfer. Immer wieder drucksen sich die fliegenden Händler zwischen den Touristenhorden herum. Besonders ältere Frauen sind es, die ihre Not durch die Verkäufe ein wenig zu lindern versuchen.
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Nur ein paar Wegminuten sind es zurück in die düstere Stimmung von Kazimierz. „Überall machen sich die Neureichen hier breit“, ereifert sich unsere Begleitung. Mit der Hand weist Bogumil hinauf zu einigen Scheiben: Deckenfluter, Designermöbel und andere gediegene Einrichtungsaccessoires zeigen sich hinter manchen der gardinenlosen Fensteröffnungen – für Polen ein eher ungewöhnliches Interieur. Der Kontrast wirkt zuweilen skurril: Neben dem abbruchreifen Wohnblock glänzt die frisch getünchte Stadtvilla, Eleganz und Prunk prallen gegen bittere Mittellosigkeit auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Die Tristheit vieler Wohnblockreihen weicht frisch bemalten Fassaden, auf den Baugerüsten wird gegen bröckelnden Putz und klapprige Fenster gekämpft. Daß sich nun aber vermehrt die Adressen von Konsulaten und protzigen Dienstleistungsfirmen in Kazimierz finden, macht allen Dortgebliebenen klar, daß sie in den nächsten Jahren noch einiges zu erwarten haben: Das gewandelte Karree avanciert zweifelsohne zum „In“-Viertel Krakaus.
Mit den Umstrukturierungen könnten aber auch die letzten Überbleibsel des bittersten historischen Kapitels für die jüdische Gemeinde verloren gehen: Schließlich blühte im unabhängigen Polen zwischen den beiden Weltkriegen die jüdische Kultur in Krakau mehr als je zuvor: 60.000 Menschen – ein Viertel der Einwohner – prägten das Leben und den Ausdruck der Stadt. Dies fand im September 1939 ein jähes Ende, als die deutsche Wehrmacht die südpolnische Metropole besetzte und zur Hauptstadt des Generalgouvernements machte. Unverzüglich begannen die Nazis mit der Judenverfolgung, und wieder einmal mußten die Anhänger des Davidsterns eine Zwangsumsiedlung über sich ergehen lassen. Wer nicht aus der Stadt geflohen war, wurde in das Ghetto Podgórze gezwängt.
Auch die Ärmsten der Armen, die es bis dahin noch in den Mietskasernen rund um die Jozefa- und St.-Wawrzynca-Straße ausgehalten hatten, drängte man nun zwischen Stacheldraht und Mauern am anderen Weichselufer. 400 mal 600 Meter nur maß des Gelände mit gerade einmal 320 Häusern. Auf dem knapp drei Quadratkilometer großen Areal waren mehr als 18.000 Menschen zusammengepfercht. Nur wenige überlebten den Holocaust, die meisten transportierte man bis November 1942 ins Vernichtungslager Belzec ab, wo mehrere tausend Juden aus Krakau ermordet wurden. Im März 1943 schließlich wurden die letzten 2.300 Juden ins Vernichtungslager Birkenau deportiert und dort in den Gaskammern umgebracht, weitere 700 erschoß man noch in Podgórze selbst.
Wie in anderen Ghettos gab es auch in Krakau Untergrundgruppen, die sich gegen die Besatzer zur Wehr setzten: Die Jüdische Kampforganisation plante die bewaffnete Revolte gegen die Unterdrücker. Wegen der Enge des Areals entschlossen sich die Widerständler allerdings, auf der „arischen“ Seite Krakaus zu kämpfen und keinen militärischen Aufstand im Ghetto zu wagen. Neben wenigen Partisanenoperationen in der Umgebung gab es zahlreiche Aktionen in Krakau: Bei der spektakulärsten, dem Angriff auf das zentral gelegene Cyganeria, ein unter deutschen Offizieren beliebtes Café, wurden elf Deutsche getötet und 13 verwundet. Der jüdische Untergrund mußte gleichwohl später nach Ungarn fliehen.
Nach dem Krieg kehrten mehr als 10.000 Juden nach Krakau zurück: Überlebende der Ghettos und KZs oder Flüchtlinge aus dem Inneren der Sowjetunion. Doch schon am Ende der vierziger Jahre kam es erneut zu antisemitischen Ausschreitungen, die meisten Juden wanderten endgültig aus.
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Den Kampf um seine Geschichte könnte das moderne Kazimierz schnell verlieren. Zwar konkurrieren zwei offensichtlich gerade erst restaurierte Cafés mit jiddischem Flair zwischen der Alten Synagoge aus dem 15. Jahrhundert, die heute das Jüdische Museum beherbergt, und Rèmuh, dem jüdischen Renaissance-Friedhof, um Kunden. Sehen und gesehen werden heißt das Motto in den beiden „Ariels“. Das Publikum gibt sich extravagant und bevorzugt pompösen westlichen Chic, der sich deutlich von der eher schlichten Kleidung der Durchschnitts-Krakauer abhebt. Bezeichnend für den Ausverkauf mag auch das Angebot eines Fremdenführers sein: „Besuchen Sie die Drehorte aus ,Schindlers Liste‘“, lautet die Einladung zu einem Rundgang an einer Wand in der Szeroka.
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