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Pilotprojekt für den Tarifbruch

Erstmalig will die Deutsche Bahn mit der Berliner BVG eine große städtische Nahverkehrsfirma schlucken. Gewerkschaft will sich gegen sinkende Löhne wehren  ■ Aus Berlin Hannes Koch

Die Große Koalition der Hauptstadt wollte das umstrittene Projekt bis nach der Bundestagswahl unter der Decke halten. Doch daraus wurde nichts. Die Gewerkschaft ÖTV veröffentlichte die neuesten, von ihr heftig bekämpften Pläne für die Privatisierung des größten Nahverkehrsunternehmens der Republik, der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Demnach müssen sich die 17.000 Beschäftigten der BVG darauf einstellen, bald für einen Konzern zu arbeiten, der mit öffentlichem Nahverkehr bisher eher wenig zu tun haben wollte – der Deutschen Bahn AG.

Für die Bahn AG wäre die Übernahme des Berliner Nahverkehrs nach Einschätzung des bündnisgrünen Verkehrsexperten Karl-Heinz Rochlitz ein „Pilotprojekt“. Erstmalig versucht die frühere Staatsbahn einen der großen deutschen Nahverkehrsbetriebe zu übernehmen. Die Verhandlungen zwischen Senat, Bahn und BVG sind schon so weit gediehen, daß Berlins Wirtschaftsstaatssekretär Dieter Ernst (CDU) gestern eine grundsätzliche Entscheidung der Landesregierung für Oktober ins Auge faßte.

Nach den bisherigen Plänen wird die Bahn AG die unternehmerische Führung und wohl auch die Aktienmehrheit der neuen Berliner Nahverkehrsholding erhalten. In die Holding eingegliedert werden die Bahn-Tochter S-Bahn GmbH sowie die Straßenbahnen, Busse, U-Bahnen und Anlagen der zur Zeit noch landeseigenen BVG als eigenständige Gesellschaften.

Mit dem Geschäft würde die Bahn AG von den Leitlinien ihrer bisherigen Politik abweichen. Früher war der Regionalverkehr das Stiefkind der Bahn-Manager. Die Investitionen flossen vornehmlich in die schnellen Fernzüge oder die Anbindung von Flughäfen. Seit einiger Zeit versucht die Deutsche Bahn AG zwar bereits, ihre regionalen Busbetriebe aufzumöbeln, doch die komplette Übernahme eines Nahverkehrsunternehmens, das für die Mobilität von vier Millionen Menschen sorgt, stellt eine neue Qualität dar. Im Hintergrund dieses Richtungswechsels steht die Liberalisierung des Verkehrsmarktes, den die Europäische Union vorantreibt. Straßenbahn- und Buslinien werden bald öffentlich ausgeschrieben, so daß Unternehmen aus ganz Europa sich um den Betrieb bewerben können. Ausländische Konzerne wie die französische Gesellschaft Vivendi oder die britische Stage Coach warten auf ihre Chance und schicken sich an, auch ganze Regionalversorger in der Bundesrepublik aufzukaufen.

Dem will die Bahn AG gerade in Berlin, einem der größten und lukrativsten Verkehrsmärkte der Republik, vorbeugen. Im Hinblick auf die Liberalisierung habe der Konzern die Absicht, „den Markt zu monopolisieren“, urteilt Grünen-Experte Rochlitz. Wenn sich das Unternehmen heute den Zugriff sichert, haben Konkurrenten in Zukunft wesentlich geringere Chancen, die eine oder andere lukrative Linie abzugreifen.

Durch das Geschäft mit der Bahn hofft der Berliner Senat, sich gigantische Belastungen vom Hals zu schaffen. Heute nämlich pumpt das Land über 900 Millionen Mark jährlich in das schwarze Loch der defizitären BVG, weil der Betrieb zu den unproduktivsten im Land gehört. Die Gewerkschaft ÖTV opponiert gegen die Privatisierung, weil die zukünftige Nahverkehrsholding die bisherigen BVG- Beschäfigten und neue MitarbeiterInnen zu niedrigeren Löhnen beschäftigen wird. Denn mit der Auflösung der BVG fallen auch die Fesseln des öffentlichen Tarifrechts. „Das ist Tarifbruch!“ schimpft deshalb Berlins ÖTV- Vize Uwe Scharf.

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