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Armutszeugnisse

Von den Lebensbedingungen der anderen  ■ Von Gabriele Goettle

Das gibt es wohl nur im Märchen, daß es den König gelüstet, sein Königreich kennenzulernen, daß er sich als gemeiner Mann verkleidet und inkognito die Arbeits- und Lebensbedingungen seiner Untertanen aus nächster Nähe beobachtet, oder gar teilt. Am Ende wird er wieder zum König, kehrt auf sein Schloß zurück, belohnt die Guten und hat viel gelernt.

Angespornt von der Behauptung unserer Obrigkeit, es gebe keine Armut in diesem Lande, haben wir den Berliner Suppenküchen vorübergehend den Rücken gekehrt um nach ihr zu suchen.

St. Elisabeth-Tisch

Das St. Joseph-Krankenhaus liegt unweit vom Stadtzentrum Dresdens. Dort, so erfuhren wir, wird an arme Leute Essen ausgegeben. Im Souterrain eines Neubaus finden wir einen hellen, kantinenartig eingerichteten Raum. Hinter dem Tresen residiert Schwester Edwina, eine ältere Nonne mit starken Brillengläsern, sie teilt das Essen aus, füllt die Spülmaschine, wäscht Kochtöpfe und beantwortet Fragen. Das Essen besteht an diesem Tag aus Suppe, Hauptgericht und Nachspeise. Es kostete 2 Mark, Kaffee gibt es für 50 Pfennige, Tee ist gratis. Zusätzlich werden diverse Spenden verteilt, wie Obst, Quark, Brote und Joghurt.

In einer halben Stunde wird Schwester Doris kommen und alle meine Fragen beantworten. Derweil nehmen wir inmitten der Essenden Platz mit unseren Tellern. Es sitzen etwa 15 Leute an den Tischen, darunter Mütter mit Vorschulkindern, ältere Frauen, alte Leute, ein Mann im Rollstuhl, groß, kräftig, mit abgeschnittener Anzugshose, um beide Knie korsettartige Stützanlagen tragend. Ein intakt aussehender, von seiner Frau verlassener Karlsruher sitzt mit zwei säuberlich gekleideten und seit Jahren arbeitslosen Arbeitern am Tisch. Man debattiert das jeweilige Problem. Zwei Männer, wie sie in jedem Szene-Caf'e sitzen könnten, teilen sich einen Tisch und essen stumm. Es sind arbeitslose Journalisten, wie ich später erfahre, die allmählich die Nerven verlieren über den brüchigen Verhältnissen. Unsere Tischnachbarin, mit der wir schnell ins Gespräch kommen, ist eine vom Lebenschaos brutal gezeichnete Frau Anfang fünfzig. Seit 1991 ist sie arbeitslos. Wenige Jahre danach wurde sie Alkoholikerin und zuckerkrank, erklärt sie ohne Befangenheit und setzt bitter hinzu: „Vorher, da lebte ich in einer anderen Welt, so kommt mir das heute vor. Ich war Bibliothekarin, habe in der Sächsischen Landesbibliothek gearbeitet, in der Auskunft. Auf einen Schlag hat man eine Menge Leute entlassen, auch mich. Seither ist mir einmal, einmal nur, eine Arbeit angeboten worden, in einer Gärtnerei. Das habe ich abgelehnt, das wäre gar nicht gegangen, weil ich's mit dem Rücken habe. Auch noch, zu allem!“ Ein Mann, mit dem sie sich zusammengetan hat in der Not, sitzt neben ihr und löffelt ungeschlacht den zweiten Teller Suppe. Er ist ein baumlanger Mitvierziger mit Lederweste, tätowierten Armen und melancholischem Gesichtsausdruck, war schon in Berlin und kennt die einschlägigen Suppenküchen und Anlaufstellen dort. Eine weitsichtige Partnerwahl für eine Bibliothekarin, die ohne jede Stütze und Erfahrung im gesellschaftlichen Abseits umher tappt.

Schwester Doris hat mich wegen der Lautstärke im Speiseraum, kurzerhand in einen mit Möbeln und Kartons vollgestopften Kellergang geführt, irgendwo einen Stuhl für mich heruntergewuchtet und auf einem der Tische Platz genommen. Sie ist schätzungsweise Mitte vierzig, drall, mit nonnenhaft weiblichem Selbstbewußtsein und flink blickender und zu Scherzen aufgelegten dunklen Augen. Nachdem sie mich präzise und knapp nach meinem Interesse gefragt hat, erzählt sie: Wir sind Schwestern vom Orden der Heiligen Elisabeth, das ist ein Orden, der sich der Krankenpflege verschrieben hat. Wir sind jetzt 160 Jahre alt, von der Gründerin her. Früher haben wir viel ambulante Krankenpflege gemacht. Unser Krankenhaus hier haben wir auch während der DDR-Zeit betreiben können, natürlich. Dieser Neubau hier ist das Schwesternheim und erst drei Jahre alt. Damals haben wir dann gleich bei der Planung den Elisabeth-Tisch für Arme Menschen miteinbezogen, denn vorher hatten wir ja im Krankenhaus drüben, vom Räumlichen her, gar keinen Platz dafür. Und nun hat sich gezeigt, daß wir fast schon überfordert sind vom Andrang an manchen Tage. Und auch finanziell. 30.000 Mark haben wir zuschießen müssen, vergangenes Jahr, wir haben ja keine öffentlichen Gelder beantragt, das machen wir so, von uns aus. Wir bekommen auch Spenden von verschiedenen Seiten, besonders von der Dresdener Tafel – das organisiert eine Westdeutsche, bewundernswert, sie sammelt und verteilt Spenden für die Armen. Gekocht wird in unserer Krankenhausküche, sonst wäre das ja gar nicht zu schaffen, tägliche Mittagessen anzubieten für 2 Mark. Das kann jeder zahlen und wenn einer mal wirklich gar nicht kann, dann lassen wir ihn natürlich nicht hungrig nach Hause gehen. Manchmal sind's 100 Leute, gestern waren es 71, heute sind weniger gekommen, bis jetzt. Essensausgabe ist bis 14 Uhr. Und wir geben auch viel mit nach Hause mit. Obst, Gemüse, Süßes, was gerade da ist, wir haben ja auch Mütter mit Kindern, die brauchen ihre Vitamine. Es kommen vorwiegend Männer, das ist richtig, aber wir haben zunehmend auch Frauen, auch ältere Frauen, die einfach zu Hause alleine sind, sich nicht mehr so helfen können, oder solche, die einfach mal raus und unter Menschen müssen, weil sie sonst verrückt werden, vor Einsamkeit. Manchmal kommen auch junge Leute, junge Arbeitslose, aber selten. Man kann sagen, die meisten, die hierher kommen, sind in irgendeiner Weise verhaltensgestört – und ich meine das in keiner Weise abfällig – es ist anzunehmen, daß das nicht immer so war, daß es ausgelöst wurde von den sozialen Umwälzungen, denn das ist ja für viele Menschen ein ungeheurer Schock, besonders dann, wenn ihnen der Boden unter den Fußen weggerissen wurde. Wer sich da halbwegs über Wasser hält und nicht in Alkoholismus, Drogen und Selbstmordgedanken verfällt, der ist bewunderungswürdig. Und man versteht das ja auch alles gar nicht mehr. Seh'n sie mal, bei uns steh'n dreimal so viel Wohnungen leer wie's Obdachlose gibt, aber die Wohnungen bleiben leer und die Obdachlosen obdachlos? Soll ich denen nun erklären, daß da Leute von drüben gekommen sind, gekauft haben – die Zahnarztinvestoren wie man hier sagt – und daß die Wohnung nun eine Immobilie ist, mit hoher Miete? Da stirbt einem doch alles ab! Glück hat nur, wer für dieses neue System irgendwo funktionstüchtig ist, wer rechts und links rausfällt, hat Pech gehabt.

Ich stelle sie gleich mal einer Frau vor, die ist für sie genau die richtige Adresse. Sie kümmert sich um arme Leute, die nicht zurecht kommen, gibt ihr Geld für andere her, hilft, wo sie kann. Ganz bewunderungswürdig. Und sie schafft es immer wieder, mich mitzureißen und sonst wohin mit zu schleppen, obwohl ich mit der Pflegedienstleitung schon genug um die Ohren habe. Sie ist über die Russen zu uns gekommen, das war '93, '94, da hatten wir noch viele Russen bei uns, Familien, die mußten weg und konnten nicht. Es war furchtbar. Sie hat sich um die sehr gekümmert in der Aufbruchphase. Da kam die Bundeswehr schon und zog ein, und die waren immer noch da, die Russen. Sie hatten ja gar nichts, lebten da in einer leeren Kaserne, die paar Soldaten, die noch übrig waren und nicht wußten, wo sie hinsollten. Für die haben wir dann Essen beschafft und alles mögliche. Und auch für die abgehenden Transporte haben wir gesammelt, viel Kinderspielzeug und warme Sachen. Und heute kommt sie immer mal und sagt, los, da gucken wir mal was wir helfen können! Oder sie bringt jemanden angeschleppt, der krank ist oder Hunger hat. Da hinten wartet sie schon auf mich, ich stelle sie gleich mal vor.

Christa

Eine Frau Mitte sechzig erhebt sich aus einem Sessel mit hoher Rückenlehne. Sie hat ein gebräuntes Gesicht, halblanges graumeliertes Haar, blaue Augen, trägt ein ausgeblichenes Baumwollhemd, eine wadenlange Sommerhose und geht barfuß in ihren halbhohen Sandalen. Sie wirkt irgendwie gegerbt und ausdauernd. „Tut mir leid“, sagt sie lachend, „aber ich habe die ganze Zeit zugehört. Armut suchen Sie? Haben sie heute Zeit, haben sie ein Auto? Dann führe ich sie wohin, wo's sinnvoll ist, vorausgesetzt, sie machen das seriös und nicht als Aufreißer. Ja? Gut, daß ich das weiß, wir haben da nämlich bereits schlechte Erfahrungen gemacht, mit Leuten ohne jedes Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen.“ Schwester Doris verabschiedet sich.

„Ich heiße Christa Th., nennt mich doch bitte, der Einfachheit halber, Christa. Ich will noch schnell etwas essen, denn deshalb bin ich eigentlich auch hergekommen.“ Während sie ißt, erzählt sie uns: „Da sind einige arme Leute, denen es gar nicht gut geht, sie leben in der Gartensparte wo ich auch wohne. Da ist beispielsweise der alte Mann, er hat immer anderen geholfen, Holz gesägt, den Garten mitgemacht, und dabei kam sein eigenes zu kurz – so geht es mir nun auch, ich komme kaum noch dazu, meinen Garten in Ordnung zu bringen – also diesem Mann hat man, als er im Krankenhaus war, seine ganzen Tiere weggenommen, sein Garten soll geteilt werden, ihn will man entmündigen. Das ist eine elende Geschichte, an der wohl nichts mehr zu retten ist. Und dann die Mutter mit ihrer Tochter. Sie ist siebzig Jahre alt, die Tochter wird am 8. Oktober 36. Am fünfunddreißigsten Geburtstag, genau auf den Tag, hat sie von der Amtsärztin einen Untersuchungstermin bekommen und die hat eine großes Geschwulst im Bauch diagnostiziert. Die drückt auf Niere und Leber und müßte also schon längst operiert sein, aber weil man so grob umgeht mit den Leuten, haben die natürlich Angst und lehnen jeden Ratschlag ab. Man kann es verstehen. Unter Druck läßt es sich schlecht schlecht denken und schlecht leben, schon gar nicht, wenn man sowieso schon in keiner guten Situation ist. In solchen Situationen kommt es dann auch zu Unfällen. Die Mutter hat im März abends um halb Neune Holz geholt zum Feuern, ist über eine Eisenschwelle gestürzt und hat sich die Hüfte zertrümmert. Sie hat wahnsinnig geschrien vor schmerzen und dann war auch noch in de Araltankstelle das Telefon kaputt. Irgendwie ist sie dann ins Krankenhaus gekommen, hat sich nach einer Weile erholt, ist wieder rausgekommen und hat Holz geholt und Holz gehackt. Kein Mensch bringt ihr welches. Das wäre früher undenkbar gewesen. Wir haben Holz rangeschafft, aber sonst läßt sie keinen an sich ran. Die haben in ihrem Häuschen keinen Strom, kein Wasser, kein Klo, kein Nichts. Abends liest die Mutter der Tochter immer vor. Nicht irgendwas, sondern richtige gute Literatur.

Seit man ihnen den Hund einfach weggenommen hat, unberechtigterweise, nur weil er gebellt hat, wenn Leute vorbei gehen, die Nachbarn gestört hat, seitdem sind die beiden Frauen eigentlich für niemanden mehr zu sprechen. Die machen alles dicht vor Angst, da liegt 'ne Kette vor der Gartentür, Klingel haben sie nicht. Man muß also laut brüllen und es ist eine reine Glückssache, ob sich jemand zeigt oder nicht. Und dann gibt es da auch noch eine arme alte Frau. Die ist 86, lebt alleine in ihrem Häuschen, das Wasser auch nur vorn draußen, von der Leitung. Ihr Sohn, mit dem sie vollkommen zerstritten ist, lebt mit seiner Familie ganz in der Nähe. Sie hat Angst vor ihm. Die Frau bestellt ihren Kartoffelacker, holt Holz aus dem Wald und macht's klein. Sie hat eine niedrige Rente und neuerdings bekommt sie Wohngeld. Aber es geht nicht mehr, sie kann nicht noch einen Winter dort leben, ohne Wasser, Holz hacken. Sie kippt dauernd um, ist schon zu schwach, eigentlich bräuchte sie Hilfe und Pflege. Aber da kommen die Leute nicht vom Pflegedienst, wenn einer keine Adresse hat und kein Wasser und nichts. Sie muß in ein Altersheim, aber sie will nicht.“

Fahrt von X nach Y

Mit einem großen Glas Graupensuppe, das Schwester Edwina für die arme Sechsundachtzigjährige abgefüllt hat, steigt Christa in unser Auto und lotst uns, Geschichten erzählend, quer durch die Stadt. „Ach ist das schön, gefahren zu werden! Ich gehe ja meist zu Fuß. Von mir bis hier runter zum Joseph-Stift. Mit Gepäck sind das so drei Stunden, die ich brauche. Einerseits ist es ja gesund, aber andererseits, mit diesen blöden Beinen! Ich würde ja lieber mit der Straßenbahn... Aber da fürchte ich mich zu sehr vor den Kontrolleuren, denn bezahlen läßt sich das ja gar nicht mehr. Die Preise sind nicht normal. Es gibt viele Leute, die so viel Fahrgeld einfach nicht haben. Und was ist, wenn sie nicht laufen können? Ich kann auch schon bald nicht mehr, mit dem schweren Gepäck immer und dem schlimmen Bein. Ich schleppe ja Sachen rauf, auch für andre, in meinem Wägelchen. Die stecken die Leute ins Gefängnis wegen Schwarzfahren! Der Gesetzgeber müßte aber doch verpflichtet werden, die Fahrpreise so zu halten, daß sie auch von allen bezahlt werden können. Aber da kommt nur Luft, aus dem Mund unserer Politiker, hintenrum machen sie uns fertig. Im Radio habe ich grade gehört, daß es gelungen ist, bei den Rentnern und Sozialhilfeempfängern '98 Milliarden einzusparen. Ich spüre das täglich. Und dann soll ich mir auch noch ansehen, wie sie ihre Prestigeobjekte ausstaffieren? Eins ärgert mich besonders, der Wiederaufbau der Frauenkirche. Das war keine Kriegsruine, das war unsere Gedenkstätte, da sind meine beiden Großmütter lebend verbrannt, beim Angriff, und viele andre auch. Das war auch eine Gedenkstätte für die ganzen Toten der Stadt, sechzigtausend, und gegen den Krieg. Das bauen sie jetzt wieder auf! Ich bin aus der Kirche ausgetreten, deshalb. Dafür bin ich nicht auf die Straße gegangen, damals, für all das nicht! Ich fühle mich ja vollständig entmündigt, bevormundet. Wir haben doch alle mal gearbeitet, haben der Gesellschaft Leistungen gebracht, ich habe telefoniert, bin Straßenbahn gefahren, habe mir Bücher gekauft, Musik gehört, meine Rechnungen bezahlt, das war selbstverständlich, das gehörte zum Leben dazu, und so muß es auch sein, daß ich das selber zahlen kann. Daß ich nicht nachts wachliege, aus Sorge, so wie es heute ist, bei mir und bei vielen anderen Leuten auch.

Sehn sie, ich habe meinen Vater gepflegt, fünfundzwanzig Jahre mit meiner Mutter, fünfundzwanzig Jahre allein. Ich konnte nie weg, keinen Urlaub machen und nichts, weil er ja versorgt werden müßte. Eigentlich wollte ich ja Gewandmeisterin werden, aber ich mußte zu Hause arbeiten, wo wir ein Modeatelier betrieben haben, als Selbständige, die Mutter und ich. Der Vater hatte Arthritis deformans, die Knochen waren völlig verformt an Händen und Füßen; und immer Schmerzen. Meine Mutter bekam dann auch noch Magenkrebs... Jedenfalls, das ging dann alles Schlag auf Schlag. Das mit der Mode ging nicht mehr nach der Wende, die Leute hatten entweder kein Geld, oder sie kauften das, was nun im Kaufhaus zu kriegen war. Es war Schluß. Da hab ich mich 91 arbeitslos gemeldet, doch da gabs g a r n i c h t s für Selbständige. Es gab auch nichts von der Fürsorge, das hing alles noch in der Schwebe. Also man kann sagen, von '90 an habe ich sozusagen von winzigen Ersparnissen und von der Luft gelebt, '92, weiß ich noch, hatte ich über Pfingsten vier Tage nichts zu Essen gehabt, die Aufregungen waren ganz schrecklich. Davon habe ich jetzt Zucker, das ist ja logisch. Heute bekomme ich eine Rente, 900 und ein paar Krümchen, angefangen hab ich mit 800. Wohngeld ist jetzt auf 130 Mark. Ich habe hier ja eine Wohnung in der Neustadt, aber die ist unbewohnbar. Die Fenster und Balkontüren sind nicht schließbar. Das ist auch so ein Kapitel.

Das Haus ham wir gerettet beim Angriff, die Mutter, ich und eine Polin mit Löschen. Und sowas gab's öfter, hier in der Gegend. In solchen Häusern leben die Leute schon sehr, sehr lange. Da wohnen die Eltern, da wohnt die Frau mit dem Bruder, und deren Kinder wohnen da. So alt die Häuser sind, so lang sind da oft die Leute drin, das sind alte Hausgemeinschaften, von Kindesbeinen an, die streiten auch, aber die sind auch solidarisch, kennen und helfen sich. Und dann wird da so ein Haus verschoben auf ganz üble Weise, West/ Ost, und wir sind Verwaltern zum Opfer gefallen, die nicht nur nichts machen – denn das kennen wir ja – nein, die fangen an, irgend'ne Wand oder Decke einzuschlagen, irgendwas aufzureißen, das Wasser abzudrehen, den Strom. Lauter Schikanen, damit die Leute ausziehen, damit sie die Häuser leer kriegen, zum Abriß oder zur Modernisierung. Und es klappt, die Leute geben Reihenweise auf. Die Alten, die zurückbleiben und um die sich nun keiner mehr kümmert, mal was einkauft oder so, die fürchten sich und dann geben sie auch auf, gehn ins Altersheim, oder so mancher bringt sich auch um. Ich zahle 450 Mark Miete, kann aber nicht drin wohnen, wohne im Garten oben. Im Garten oben darf ich aber nur wohnen, wenn ich' ne Wohnung nachweisen kann, als festen Wohnsitz. Also kann ich die Wohnung auch nicht aufgeben, sonst bin ich erledigt.“

Erst allmählich wird uns klar, daß Christa selbst eine der armen Frauen ist, von denen sie sprach und nicht, wie wir zuerst vermuteten, eine ältere Frau mit guter Rente und ausgeprägtem Helfersyndrom. Sie zeigt auf ein Eckhaus und ruft: „Bitte haltet doch da an der Ecke mal kurz, ich komme gleich wieder.“ Sie verschwindet und kommt nach einigen Minuten zufrieden lächelnd wieder.“ Das ist so ne nette Blumenfrau, die wohnt in einem der Abrißhäuser da vorn, hat da ihren Laden und die fragte mich, ob ich nicht mal hingucken könnte, ob das Grab auch gut versorgt ist und in Ordnung. Das Grab von Erich Kästner, dem berühmten Schriftsteller, der auch den Fabian geschrieben hat – ein bißchen so fühl ich mich auch – und da war ich am Freitag bei dem Sturm auf dem Friedhof. Na ein bißchen verwahrlost ist das schon. Die Eltern sind ja so '50/51 gestorben. Da ist keiner, der sich kümmert von der Stadt, im Gegenteil, die hat jetzt grade das Haus abreißen lassen, wo er gewohnt hat in der Königsbrückerstraße. Ums Grab, da kümmern sich einfache Leute. Heut' geht's nur noch um's Geld, das hat Folgen. Hier, Buchenstraße“, sie deutet hinaus, „da ist ein Obdachlosenasyl, die heißen hier alle nach Baumarten, die Straßen. Aber es gibt, glaub ich, auch noch eine in der Maxim Gorki Straße. Und nun fahren wir hier noch ein Stück und links rüber, da ist dann die Magazinstraße schon. Mein Gott, geht das schnell und bequem mit dem Auto! Da vorn liegt die Stauffenbergallee – nur, damit ihr so in etwa einen Eindruck bekommt – dort sind Kasernen und dort ist unser Strich. Da werden Frauen verkauft und Kampfhunde und wer weiß was noch alles. Weiter hinten war übrigens mal ein Zwangsarbeitslager im Krieg, Zwangsarbeiter für Zeiss Ikon waren dort, da hat die Gestapo 1942 im November die Dresdner Juden hingebracht, auf den Hellerberg, von da aus sind die armen Menschen nach Auschwitz abgeholt worden, alle.

Und was ihr hier nun seht, das war Kasernengelände, Militärgebiet. Rechts, diese großen Speichergebäude, das waren die Magazine. Da sind am 18. Mai '45 die Dresdner alle hergezogen – wir nicht – und die haben die Lager leergeräumt und weggeschleppt, was sie gefunden haben.“ Links stehen in Einheitsgrau hinter einstürzenden Mauern die ehemaligen Wohnblocks der russischen Offiziersfamilien, die Fenster sind eingeworfen, die Natur wuchert und verleiht der Tristesse etwas von verwunschener Verwilderung. „Hier haben wir uns ja damals um die Russenfamilien gekümmert, die Sr. Doris hat da sehr mitgeholfen. Diese Soldaten hatten ja alle Verträge gehabt für die Zeit, in der sie hier bleiben sollten, die gingen über fünf Jahre – Ich weiß nicht, ob das bekannt ist – und nun sollten sie teils nach anderthalb Jahren schon zurück und kamen aber nicht in ihre Wohnungen zu Hause, weil sie die ja für fünf Jahre hatten vertragsmäßig vermieten müssen. Und da saßen sie hier auf ihren Containern und konnten nicht weg und waren verzweifelt, besonders zum Schluß, als alle schon weg waren und sie allein in den leeren Häusern... Das war ja auch nicht ungefährlich und kein Geld, nichts zu beißen. Die waren einfach untergegangen und vergessen worden im Gedränge. Und ein weiteres Problem, auf das wir sehr schnell stießen, waren die zurückgelassenen Tiere der Russen. Hunde, Katzen, Kaninchen, alles, die rannten hier jämmerlich umher. Obgleich, da wurden ja vorher mit den russischen Veterinären in Berlin-Karlshorst lange Verträge geschlossen, daß die Russen keinesfalls ein Tier aussetzen oder abschlachten, sondern, getreu nach deutschem Tierschutzrecht und –gesetz, die Tiere gut behandeln und den entsprechenden Behörden übergeben. Aber das war natürlich überhaupt nicht zu leisten. Die waren froh, wenn sie ihre Menschen halbwegs human heimtransportieren konnten. Die Tiere mußten hier also alle eingefangen, untersucht, kastriert und weitervermittelt werden. Die Schwäne von der Nachrichtenkaserne ham wir geholt, na, das war was. Ich habe heute noch eine Soldatenkatze. Sie heißt Tamara. Das war ein Brett – genau wie die jungen Soldaten. – Das Fell ganz zerfleddert und stumpf. Die lebte im Kohlenbunker. Heute ist sie glänzend und weich. Und immer wieder war die Schwester Doris mit dabei, sogar bei den hungernden Katzen, obwohl sie Katzen gar nicht so leiden kann. Die Frau ist einmalig!“

Kleingartenverein Hellersiedlung

„Da sind wir schon, links. Das ist ein riesiges Gelände. Das war Truppenübungsplatz und Exerzierplatz. Nach dem Krieg wurde hier oben der Trümmerberg angelegt, da kamen die Trümmer hin aus Dresden. Dabei hat man natürlich auch Sachen hingeschmissen, die auf 'ne Deponie gehören. Lauter giftiges Zeug eben. In der Annahme, daß da nichts hinkommt. Doch dann haben sie für die Leute aus Dresden, die ausgebombt waren und keine Wohnung hatten, das Gelände freigegeben 1948. Zum Besiedeln. Früher hieß das bei den Dresdnern nur „der Heller“. Die Parzellen sind, weil sie ja auch mal zur Versorgung gedacht waren, sehr groß. 1000 Quadratmeter. Und das wird heutzutage natürlich teuer. Die Pacht soll schon wieder erhöht werden. Wer's billiger haben will, muß der Teilung seiner Parzelle zustimmen. Aber wer will das schon verlieren, was er, teils zeitlebens, angepflanzt und kultiviert hat? Hier wohnt alles immer noch durcheinander. Da sind auch viele Generäle und Leute, die Privilegien genossen haben – früher. Viele haben da ihre Datschen drauf und reine Luxusgärten. Das soll aber nicht sein. Es soll ein Drittel Obst, ein Drittel Gemüseund ein Drittel Blumen sein. Ich hab meinen Garten erst nach 1989 bekommen. Ich wollte damals ins Grüne, raus aus der Stadt, dem Gestank und Krach und erst später habe ich gemerkt, daß ich eigentlich vom Regen in die Traufe... Da gibts nun also auf der einen Seite die Sondermülldeponie, dann gibts das Bitumenwerk mit der Teerkocherei für den Asphalt. Das ist auch sehr schädlich. Und dann ist da noch die ehemalige Panzerbahn von den Russen, die mit Schwermetallen verseucht ist. Das Umweltamt hat Proben genommen, dann durften die Anlieger ihr Obst und Gemüse plötzlich nicht mehr essen. Ganz schlimm ist auch das Wasser. Das läuft in alten rostigen Rohren und ist eigentlich für den Genuß gar nicht geeignet. Als Brauchwasser und zum Gießen ja, aber sonst, ekelhaft! Es kostet uns aber doppelt so viel, wie das Trinkwasser in der Stadt. Mit der Begründung, wegen der dauernden Wasserrohrschäden im Winter sei die Wartung oder was so teuer. Aber die meisten Leute trinken es natürlich, was sollen sie machen? Ich geh' ja sogar und hole im Kanister unten aus der Stadt vom Albertplatz Wasser. Da ist der „Antesische Brunnen“, der wird gespeist von einer sehr alten Quelle – seit 1835 – glaube ich. Das schlepp ich auch. Denn Wasser kaufen, das kann ich ja nicht. Ich hab schon ein paar Tausender Stromrechnung gehabt für die kalte Jahreszeit, weil ich ja elektrisch geheizt habe und nicht auch noch mein Holz hacken kann, das ganze Jahr über. Und so geht es nicht nur mir. Hier leben viele Leute, die irgendwelche Probleme haben, psychische, gesundheitliche, denen oft kein Mensch hilft. Von einigen habe ich ja vorhin schon erzählt. Und dann sagen unsre Politiker, daß es in Deutschland keine Armut gibt? Steigen wir doch mal aus und gucken wir bei der Frau P. rein.“

Frau P.

Christa verschwindet in einem der Gärten, um uns anzumelden und kommt bald darauf zurück. Wir sind willkommen. Durch das Gartentor führt ein Weg zwischen Gemüsebeeten und Obstbäumen geradewegs auf Haus und Schuppen zu. Unter den Gravensteinerbäumen liegen die heruntergefallenen Äpfel, Kohlrabi, Grünkohl, Möhren sind erntereif, ein kleines Feld scheint bereits abgeerntet und umgegraben. Das Häuschen ist schmal, eingeschossig und mit Spitzdach, die Regenröhren enden über alten ovalen Zinkbadewannen, in denen das Wasser steht. Auf kleinen Haufen sind die verschiedensten ausgemusterten Gegenstände aufeinander getürmt, eine Lampe, mit noch unversehrten Glühbirnen, oxydiertes Besteck, zerbrochene Gerätschaften. Etwas zögernd tritt eine hagere Greisin in Kittelschürze und derben Schuhen aus der Haustür. Ihr gelblich weißes Haar ist nach hinten gekämmt und wird von einem schütteren Dutt zusammen gehalten. Sie geht erstaunlich aufrecht, reicht uns etwas verlegen aber kräftig ihre rauhe Hand, lächelt und sagt: „Daß ich mal Besuch kriege, das ist eine Seltenheit. Was habt ihr mir denn da mitgebracht? Erbsensuppe?“ Frau P. legt in Schwerhörigenart ihre Hand ans Ohr und Christa ruft: „Nein, Gräupchen sind das. Die tu ich gleich mal in den Topf, damit sie mir nicht das Glas auf den Herd stellen, versehentlich. Ein französisches Brot wäre da auch noch, ganz frisch.“ Frau P. dankt, streicht sich eine Strähne zurück und sagt langsam in melodischem Sächsisch: „Ich hab mich ja aufgemacht, in die Stadt, um jemanden zu finden, der den Fernseher reparieren kommt, aber ich hab dann nicht mal die Straße gefunden, in der ich wohne. Das wußte der Reparateur besser als ich, wo ich hin gehöre.“ Sie kichert und macht eine lange Pause, sieht prüfend hinauf zum Himmel, der sich mit bauschigen Wolken im Wasser der Badewannen spiegelt und sagt achselzuckend: „Na ja, hat heut schon paarmal anfangen wollen zu regnen, das wird aber nichts. Ich krieg schlecht Luft, wenn's regnet, wenn's feucht ist überhaupt. Na ja, die Jahreszeit is nun mal so, wir gehn auf den September zu, da wird's auch bald schon frühe dunkel ... Jetzt, wo der Fernseher kaputt ist, da leg ich mich beizeiten hin, schon um neune so. Aufstehn tu ich ja um siebene, zum Mittag leg' ich mich mitunter nieder, jetze, wo ich schlecht schlafe. Hab ein bissel Ärger mit meinem Sohn“, sie ballt die Faust und schüttelt sie in Richtung der gegenüberliegenden Grundstücke, „so ein ganz Böser ist das!“ Ich frage, wer das Häuschen gebaut hat, sie versteht mich ohne Mühe: „Ich selber! Da wurden die Steine alle zusammen gesammelt und dann wurde es aufgebaut, von Männern. Ich habe geholfen, da war ich achtundvierzig. Seit 1960 habe ich's. Und immer war's günstig. Alles hier. Nun wollen sie die Pacht erhöhen, schon wieder, da komm ich ja gar nicht mehr hin, wenn ich alles zusammenrechne, Strom und Wasser... Die Rente ist ja nicht viel. Damals, als der Krieg aus war und die Männer aus der Gefangenschaft gekommen sind, da sind die Frauen dann alle ausgezahlt worden und das fehlt jetzt. Da krieg ich jetzt nur 500 und 43 an Rente, Wohnungsgeld kriege ich neuerdings auch... Ich muß nu sehn, wie ich zurechtkomme. Gemüse hab ich ja genug und Äpfel. Die gehn alle kaputt. Na ja, was will man denn alleine machen? Für so ne alte Frau wie ich, da isses schwer, aber vielleicht geh ich ja mal ins Altersheim? Ich weiß ja nicht, wie's im Altersheim zugeht, aber bestimmt ist es streng und die sagen dauernd was man tun und lassen muß. Das ist nichts für mich. Ich mach alles selber und wenn ich will, mach ich gar nichts, nur faulenzen. Sonst tu' ich Wäsche waschen, aufräumen, saubermachen, das muß alles gemacht werden, ich hab ja keine Waschmaschine, wasche alles von Hand, auf meinem Waschbrett dort, mach mir alles alleine, Garten richten und mein Holz.“

Sie führt mich zu einem eisernen Sägebock, zeigt auf einen Haufen dicker, knorriger Äste und auf ein paar Reihen mit zersägten, aufgestapelten Holzstücken. „Da muß ich ganz schön Holz machen, wenn den ganzen Winter über der Kachelofen schön warm sein soll.“ Frau P. holt aus dem Schuppen eine große Bügelsäge, nimmt einen armdicken Ast, legt ihn auf den Sägebock und fängt mit kräftigen Bewegungen an zu sägen. Nachdem der erste Klotz zu Boden gefallen ist, hört sie auf, lächelt zufrieden und sagt: „Wollte nur mal zeigen, wie ich sägen tu. Das Holz hol ich aus dem Wald, da liegt immer was rum. Die tun dort arbeiten, ham die Bäume umgesägt und ich darf mir das nehmen, ham sie gesagt. Da, mit diesem Wägelchen geh ich los. Momentan ist rechts die Luft raus, ich muß es richten und nu find ich die Pumpe nicht. Allmählich geht alles kaputt. Aber heut tu ich nicht mehr sägen, das mach ich ein andermal. Kommen sie mal mit, ich zeig ihnen was, ich geh jetzt die Kaninchen füttern.“ Ich folge ihr zum Kohlbeet, wo sie eine Handvoll Blätter abzupft, auch einen Apfel hebt sie auf im Vorbeigehen. Seitlich vom Schuppen steht ein alter, mannshoher Kaninchenstall mit großen Abteilen. In zweien sehe ich je ein riesiges weißes Kaninchen mit langen Ohren und roten Augen sitzen, die anderen Abteile scheinen leer. Sie öffnet das Türchen zum prachtvollsten Kaninchen, es macht einen Satz nach vorn, ergreift mit den Nagezähnen eines der Blätter und Zeit es davonhüpfend in den hinteren Teil seines Käfigs. Frau P. folgt ihm mit der Hand, streichelt über das Fell und sagt: „Die hab ich selber gebaut, die Kaninchenställe, da muß mal wieder der Mist raus und frisches Stroh rein. Früher hatte ich auch Hühner.“ Sie öffnet den Verschlag des anderen Kaninchens, legt ihm die übrigen Blätter hinein, den Apfel aber gibt sie ihrem offensichtlichen Liebling. „Ich muß das auch mal reparieren, vor dem Winter noch, das Holz. Es zieht rein. Besonders unten, beim Schwarzen“, sie bückt sich und späht in eines der unteren Abteile,“ es ist so dunkel drin bei dem, man sieht gar nix von dem Schwarzen“. Sie kichert, klopft ans Holz und macht keinerlei Anstalten, auch diesem Kaninchen etwas Futter zu geben. Schon wendet sie sich ab, einer gemauerten Mistgrube zu, in die sie ein paar faule Äpfel hineinwirft, die bei den Ställen lagen. „Meine drei Kaninchen. Von den Tieren lebe ich“, sagt sie seufzend, „die eß ich nicht, das sind meine Kinder, die liebe ich. Früher ham wir Kaninchen gegessen, aber heut esse ich nun gar kein Fleisch mehr. wie die Kaninchen. Ich geb denen immer mal so ein zwei Äpfel rein, sie wern ja nur 6-7 Jahre alt. Dreie sind se schon alt.“ Frau P. führt mich wieder vor's Haus.

„Wartense mal“, sagt sie, „ich hol mal eben die Mieze raus“, verschwindet im Haus und kommt bald darauf wieder, mit einer seltsam steifen Katze auf dem Arm. Das Fell des Tieres ist dunkelbraun, die Pfoten, Ohren und das Gesicht sind schwärzlich. Bewegungslos, mit starren offenen Augen, in denen eine weißlich trübe Linse schwimmt, verharrt die Katze an der Brust der Frau. „Das ist meine Mieze“, sagt Frau P. stolz, „23 Jahre is sie alt und seit einiger Zeit nu taub und blind. Hier mit dem Ohr ist sie mal früher in die Starkstromleitung geraten, davon isses so abgeschmurgelt. Das ist so ne ganz eigene. Im Winter, wenn da kein Wasser mehr kommt aus der Leitung, wegen Frost, dann muß ich mir ja immer Schneewasser schmelzen in Eimern. Aber die Mieze, die trinkt davon nichts, das ist ihr zu dreckig.“ Frau P. steht da und lächelt. Wir schreiben das Jahr 1998. Wir befinden uns am Rande einer Großstadt, mitten in Deutschland, in der Zivilisation. „Wenn sie's nu gar nicht nimmt, dann kriegt sie eben Milch“ sagt Frau P. und trägt die wie mumifiziert wirkende Katze mit wiegenden Bewegungen ein wenig durch den Garten. „Sehn sie mal dort drüben', sie deutet mit dem Ellenbogen Richtung Kohlbeet, „da kommen die Krokusse raus. Sie kommen März/April und jetzt noch mal, bevor es kalt wird. Ich muß das hier alles noch abernten, die Kohlrabi und Möhren, die muß ich nach und nach in den Keller schaffen, rechtzeitig. Der Rosenkohl und Grünkohl muß ja Frost kriegen, aber das andre... Die Kartoffeln hab ich vergangene Woche schon alle raus, die sind in einer großen Kiste nun und warten da, so lange, bis sie gefressen werden“, sie kichert vergnügt, „von mir und den Kaninchen. Das sind gut fünf Zentner, da kommen wir lange mit aus, ich und meine Kaninchen, und das Gemüse ham wir auch noch, das kommt in Sand. Nur die Äpfel die halten sich nicht, die kann man nich einkellern. Da könnt ihr ne Menge von mitnehmen, bitte, mir werden sie nur faul. Essen kann ich sie nicht, ich hab' ja so ne schlechten Zähne“, sie schürzt die Lippen und zeigt mir mit mädchenhafter Verlegenheit ein paar seitlich verbliebene gelbe Zahnreste. Vorn, die Schneidezähne, ohne die man unmöglich in einen Apfel beißen kann, fehlen vollständig. „mal reib ich mir einen auf, aber das Saure zieht mir nu alles zusammen und Mus machen, das lohnt nich, für einen Menschen alleine.“

Christa hat unterdessen mit Elisabeth ein bißchen Holz gesägt, doch nun ist es Zeit, daß wir uns verabschieden. Frau P. steht am Gartentor, holt ihre steife Katze auf dem Arm, lächelt etwas wehmütig und ruft: „Und nu fahr'n sie also nach Berlin? Da war ich noch nie. Da werd' ich auch nicht mehr hinkommen, in meinem Leben. Na, gute Reise wünsche ich und danke für den Besuch.“

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