■ Das Programm von Rot-Grün lautet bislang: Allen wohl, niemandem wehe. Die globale Wirtschaftskrise kann dieses Konzept rasch erledigen: Falsche Zeichen, kleinmütige Reform
Die beiden sozialdemokratischen Parteien, deren Verschmelzung nun beginnt, hatten Glück bei den Wählern. Sie brauchten nicht mehr viel Glück bei den Koalitionsverhandlungen, das Ergebnis ließ sich seit längerem voraussehen. Und Glück haben sie wahrscheinlich beim Regierungsstart, das Personal läßt sich sehen.
Ob sie aber Fortune haben werden – dafür sind die Chancen ziemlich dünn. Sie hätten, um aus ihrem Wahlglück etwas machen zu können, spätestens im Frühherbst 97 drankommen müssen. New Labour ist solches Terminglück beigesprungen, ebenso der gauche plurielle, dem französischen Linksbündnis unter Lionel Jospin. Fast anderthalb Jahre lange konnten sie ziemlich ruhig arbeiten, ein paar kleinere Experimente unternehmen. Die Konjunktur hatte ihnen zufällig beigestanden.
Schon nach einem Jahr schrieb man ihnen deshalb Fortune zu. Seit den 90er Jahren hat in Europa nur noch selten eine Regierung Gelegenheit, für ihre Tüchtigkeit selber belohnt, für ihr Versagen selber bestraft zu werden. Der politische Anteil, die Tatkraft der Regierungen spielen überall eine abnehmende Rolle, dafür wächst der Anteil des Zufallsglücks oder -pechs.
Seit zwei Monaten schwärzen sich die Wolken der Weltwirtschaftskrise bedrohlich ein, sie hängen auch über Unionseuropa und über Deutschland. Es war nur noch Pfeifen im Walde, wenn sich die Wirtschaftspolitiker und die Experten den lieben Sommer lang mit der OECD-Auskunft beruhigten, es werde schon nicht so schlimm werden. Die Europäer wickelten doch 80 Prozent ihrer Geschäfte unter sich ab, was könnten sie die Serienzusammenbrüche in Südostasien, Japan, Rußland, Südamerika treffen? Außerdem werde der gerade recht kommende Euro sie einigermaßen schützen.
Das sind zwar hilfreiche Puffer. Aber vor dem gemeinsamen Abwärtsstrudel, in dem seit neuestem auch Amerika treibt, werden sie nicht bewahrt. Alle paar Wochen revidieren jetzt OECD und Währungsfonds ihre Wachstumsprognosen um 0,2 Punkte nach unten. Und wenn zum Beispiel die Regierung Jospin noch im Juli auf ein Wachstum von drei Prozent für 98 setzen konnte und sich schon ans Verteilen des unverhofften Gewinns machte, so muß sie nun en arrière auf zwei Prozent blasen. Blair geht es nicht anders.
Vor drei Wochen schon hatte der Börsencrash alle Börsengewinne dieses Jahres aufgefressen, auch die Erwartung der vielen Millionen europäischer Kleinaktionäre aus dem letzten Jahr. Das ließ sich noch als Bereinigung hinbügeln. Inzwischen sind auch die Gewinne von 97 vom Bären gefressen. Und die Zinssenkungen der amerikanischen FED greifen sowenig wie die der Europäer. Die Pferde wollen nicht saufen.
Das alles war in den beiden Wochen der rot-grünen Verhandlungen schon zu sehen. Man hätte sich gerade noch drauf einstellen können, daß das Steueraufkommen sehr bald sinken und daß die Arbeitslosenquote wieder steigen wird. Auch die Realeinkommen der Mehrheitsmittelklasse werden nach kurzer Pause weiter zurückgehen. Wenn es sehr gut geht, kommen 1999 knapp zwei Prozent Wachstum heraus. Die Rezession steht hart vor der Tür. Es wird sich beim Regieren also hauptsächlich um die Umverteilung von Verlusten handeln. Die Verhandler werden wahrscheinlich in sechs Monaten feststellen, daß sie in der Misfortune starten mußten. Daran war nicht viel zu ändern, aber einiges doch. Freilich, man hätte mitten im Kenterwind beidrehen müssen. Dafür fehlte es im Moment des Steuerwechsels an Geistesgegenwart und Kraft. Auch wenn die Schuld daran die Koalition nicht direkt trifft, verantwortlich dafür wird sie doch gemacht. Und wenn auch das kleinmütige Stückwerk des sozialpolitischen Aktionsprogramms finanziell keinen übermäßigen Schaden anrichten wird, am psychologisch moralischen Schaden wird die Koalition noch einige Zeit zu tragen haben.
Am besten wäre es gewesen, die Regierung hätte sich einfach in den Sattel gesetzt und dem Wahlvolk gesagt: Wir stecken im Moment im Nebel – ihr wißt, daß wir miteinander regieren wollen und müssen –, ans Nichtregieren seid ihr ohnehin gewohnt, aber in 100 Tagen werdet ihr unser Programm haben. Es wird unbelastet sein von den Kleinlichkeitsfehlern, die bei Koalitionsverhandlungen unvermeidlich sind. Ihr Rentner, Autofahrer, Überstundenmacher, Transrapid- Bauer, Eltern, unsere Wahlversprechen sind erst einmal storniert. Wir wollen von euch die Chance erhalten, euch und uns in 100 Tagen nur halb soviel vorzumachen, als wir es heute tun müssen.
So vernünftig darf es freilich in der Politikerroutine der Massendemokratie nicht zugehen. Auch wenn die Wähler nichts Großes erwarten und gerade in diesem Fall vor allem neue Figuren, nicht aber Programme gewählt haben, es muß der Aktionismus der ersten 100 Tage gespielt werden. Selbst wenn dann vieles falsch auf die Schiene gesetzt wird – man muß Muskeln zeigen, angeblich, um dem Publikum Vertrauen einzuflößen und die Gelüste der eigenen Leute kurzzuhalten. Politisch ist das gerade heute Unsinn, aber die Medien wollen es so.
Aber auch wenn Schröder, Fischer und Lafontaine ihr Herz in beide Hände genommen und einen kleinen Offenbarungseid geleistet hätten: Ihnen wäre eine Reihe von Ungeschicklichkeiten erspart geblieben, wie die lächerliche Benzinpreiserhöhung. Doch in einem strategischen Hauptpunkt hätten sie auch dann wenig zu sagen gewußt, wenn man ihnen 100 Tage Schonzeit gegeben hätte: der Rentenpolitik, dem zentralen Feld jeder zukünftigen Sozialreform.
Die Rücknahme der Senkung des Rentenniveaus war das größte rot-grüne Falschsignal. Es zeigt an, daß man hier Klientelpolitik betreiben wollte. Das ließ glauben, daß im System alles beim alten bleiben könnte. Statt dessen hätte man gerade jetzt darauf vorbereiten müssen, daß demnächst alles umgekrempelt werden müsse. Hier entscheidet sich die neue Solidaritätspolitik, die den alten Sozialstaat, den Generationenvertrag und die Lohnanbindung hinter sich lassen muß.
Hier muß über Lebenserwerbszeiten entschieden werden und über die erneute Zulassung der allzu vielen Frühalten zur aktiven Bevölkerung in den geeigneten Arbeitsformen und -entgelten – kurz, über die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft. Das hätte man bereits deutlich in den Koalitionspakt schreiben können. Statt dessen Tröpfchenpolitik wie eh und je. Kanzler Schröder hat eine Chance: Er könnte sich in seiner Regierungsrede ein paar Seiten dafür reservieren. Claus Koch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen