: Das Zigeunermädchen
Morgen enthüllt Magdeburg ein Denkmal zu Ehren seiner verfolgten und ermordeten Sinti und Roma. Über die Vorgeschichte ■ Annett Gröschner
Ist es wirklich schon Jahrzehnte her, daß ich Unku, das Zigeunermädchen, getroffen habe? Ja, es muß wohl so sein. (...) Damals – es war im April 1929, und von euch war noch keiner geboren – sah ich Unku zum erstenmal. Wir wohnten in Berlin, in Reinickendorf, und ich schlenderte durch die Gegend, bis ich zum Stadtrand kam. (...) Als ich den Fuß des Hangs erreicht hatte, bemerkte ich ein paar Zigeunerwagen, die hier bislang nicht gewesen waren. Der größte von ihnen war frisch grün gestrichen und trug zwischen seinen Fenstern Verzierungen: Reitpeitschen und Hufeisen. Aus der Tür kam ein etwa zehnjähriges bloßfüßiges Mädchen geklettert.“
So beginnt das 1931 erschienene Buch „Ede und Unku“ von Alex Wedding alias Grete Weiskopf, die authentische Geschichte der Freundschaft des Arbeiterjungen Ede mit dem Sintimädchen Unku, laut Geburtsurkunde Erna Lauenburger. Von Erna Lauenburgers Verbleib weiß die Autorin im 1954 nachträglich eingefügten ersten Kapitel ihres Buches nichts zu erzählen. „Ich fürchte, meine Zigeunerfreunde sind nicht mehr am Leben“, mutmaßt Grete Weiskopf.
„Ede und Unku“ war Pflichtlektüre aller Zehnjährigen, die die Polytechnische Oberschule in der DDR besuchten. Knapp eine Million Gesamtauflage. Auch ich habe als Kind in Magdeburg das Buch verschlungen. Eine fremde Welt: Umherziehende Zigeuner – daß sie sich selbst Sinti und Roma nannten, hatte man uns nie erzählt – gab es in meiner Kindheit nicht mehr, die letzten waren 1955 mit der Begründung „Diese Zigeuner geben Anlaß zur Verärgerung der Magdeburger“ von der Volkspolizei in den Westen abgeschoben worden. Es gab nur den abfälligen Spruch „wie die Zigeuner“, mit dem die „ordentlichen Bürger“ der Stadt wahlweise polnischen Kleinhändlern, Hippies, Assis oder Punks zu verstehen gaben, daß sie nicht dazugehörten. Dafür gab es „Zigeunersteak mit Letscho“ in jeder Gaststätte und den „Zigeunerbaron“ im Theater.
Nach dem Krieg hatte die Deutsche Volkspolizei die von den Nazis angelegten „Zigeunerpersonalakten“ weitergeführt. Vermerkt wurde dort etwa, daß 1947 die Sintiza Adelheid Krause zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt wurde. Sie hätte einen Wohnwagen gestohlen. Was nicht vermerkt wurde: Es war ihr eigener, den sich Bauern nach der Deportation der Sinti angeeignet hatten.
Auch daß die erwachsene Unku vor ihrem Abtransport nach Auschwitz 1943 fünf Jahre im „Sammellager für Zigeuner und Zigeunermischlinge“ am Rande der Stadt Magdeburg leben mußte, hat uns niemand erzählt. Wie überhaupt die Nazizeit seltsam spurlos an unserer Stadt vorbeigegangen zu sein schien, abgesehen von ihrer erheblichen Zerstörung am 16. Januar 1945.
Dabei war die weitere Geschichte von Unku bekannt. 1965 wurde der Schriftsteller Reimar Gilsenbach von der Wochenpost beauftragt, dem Leserbrief einer Sintiza aus Leipzig nachzugehen. Seine Reportage wurde nie gedruckt, aber Gilsenbach hatte sein Thema gefunden: Die Sinti sollten endlich als Verfolgte des Naziregimes anerkannt werden.
1966 traf er Flauma, eine Verwandte von Unku. Sie erzählte ihm, daß alle der im Buch vorkommenden Personen, außer einer Frau, umgebracht worden waren. Aus den Erzählungen der Sinti und dem Studium der „Zigeunerpersonalakten“ im Landesarchiv Magdeburg rekonstruierte Gilsenbach Unkus Geschichte und bat den Kinderbuchverlag, wenigstens einige Sätze über Unkus Tod in die kommenden Auflagen des Buches aufzunehmen. Der Verlag hat nie reagiert.
Das „Zigeunerlager“ von Magdeburg befand sich am nördlichen Rand der Stadt, am Großen Silberberg. In den zwanziger Jahren Rastplatz für Sinti und Roma, wurde das Gelände 1939 mit dem „Festschreibungserlaß“ des SS- Reichsführers, Heinrich Himmler, zum Zwangslager. Alle in Magdeburg und Umgebung gemeldeten Sinti und Roma, egal ob seßhaft oder nicht, wurden dorthin gebracht – verlassen durften sie es, außer zur Zwangsarbeit, nicht.
Das Areal war durch häufige Überschwemmungen sumpfig, und die Unterkünfte entsprachen nicht im mindesten den Anforderungen der Baupolizei, ergaben Recherchen der Sozialpädagogin Gabi Haas-Wittstock. 1940 wurde gar eine Holzbaracke, „die in früheren Jahren während der Sommermonate als Umkleidekabine für das Familienfreibad an der alten Elbe – unterhalb des Wasserfalls – Verwendung fand“, umgesetzt. „Wenn der bauliche Zustand dieser Baracke auch nicht mehr derart ist, daß sie bisherigen Zwecken dienen kann, so eignet sie sich doch noch (...) zur Unterbringung von Zigeunern“, war die damalige Auffassung.
Als die Sinti am 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert wurden – die Magdeburger Kriminalpolizei hatte es sehr eilig, Magdeburg sollte als erste deutsche Großstadt zigeunerfrei sein – war auch Unku mit ihrer Tochter Marie dabei, die bald nach der Ankunft starb. Reimar Gilsenbach hat sich das Ende Unkus von dem Sinto Kurt Ansin, der „Seemann“ genannt wird, erzählen lassen: „Unku war vor Schmerz von Sinnen. Es heißt, sie sei schreiend aus der Baracke gestürzt und habe draußen zu tanzen begonnen, einen der alten Sintitänze, bei denen die Tänzerin sich kaum von der Stelle bewegt, und die doch voll Leidenschaft sind. Tanzend habe Unku gelacht, so gellend gelacht, daß allen, die ihren Tanz sahen, das Herz erstarrt sei. Beherzte Männer hätten sie gepackt und ins Krankenrevier gebracht. Statt Hilfe und Heilung habe sie dort ihren Mörder gefunden: SS-Arzt Dr. Mengele habe ihr eine tödliche Spritze geben lassen.“
Schon 1981 hat sich Reimar Gilsenbach für die Errichtung eines Denkmals in Magdeburg eingesetzt. Der Briefwechsel seit damals mit diversen Behörden füllt einen dicken Ordner.
Auch wenn nun endlich ein Gedenkstein eingeweiht wird, ist Gilsenbachs Freude geteilt. Im Oktober 1983 forderte er den Oberbürgermeister Werner Herzig auf, am Großen Silberberg ein Denkmal errichten zu lassen. Da nichts passierte, wandte er sich an Erich Honecker. Die Stadt antwortete daraufhin, daß es seit 1947 einen „Ehrenhain für die Opfer des Faschismus“ gäbe, in dem auf Urnensteinen die Namen aller Ermordeten verzeichnet seien. Ein separates Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma widerspräche dem Gleichheitsgrundsatz.
Gilsenbach fuhr nach Magdeburg und stellte fest, daß keine Sinti darunter waren, angeblich waren die Todesdaten nicht bekannt. Im Magdeburger Archiv fand er die Todestage in den „Zigeuner-Personalakten“ und schickte die Liste an den Rat der Stadt. Der beschloß im November 1988, statt der Steine auf dem Ehrenhain, ein separates Denkmal zu errichten. Hinter dieser Entscheidung vermutet Gilsenbach tiefsitzende Ressentiments. Und die ließen eben nicht zu, daß „Zigeuner“ und Widerstandskämpfer gemeinsam geehrt würden.
Im Februar 1989 wurde Gilsenbach mitgeteilt, man habe den Magdeburger Bildhauer Wolfgang Roßdeutscher mit dem Entwurf eines Denkmals beauftragt. Zugleich wurde ihm nahegelegt, er sollte sich nicht weiter einmischen. Sein Eintreten für die Belange der Sinti und Roma hatten ihn in den Augen der Staatssicherheit längst zu einer „feindlich-negativen“ Person gemacht.
In den Wendewirren geriet das Denkmal in Vergessenheit. 1991 bat Gilsenbach den neugewählten Oberbürgermeister Willi Polte, sich dafür einzusetzen, daß auf dem Ehrenhain nun endlich Gedenksteine für die ermordeten Sinti gesetzt werden. Die Stadt favorisierte wiederum das Denkmal, als Ort wurde nicht der Platz am Großen Silberberg, sondern der Park zwischen Dom und Staatskanzlei bestimmt – wohl auch, um es besser schützen zu können, denn als Ort der Toleranz haben Neonazis Magdeburg in den vergangenen Jahren nicht bekannt gemacht.
Und so wird in den Veröffentlichungen der Stadt auf die „mutige Entscheidung des Stadtrates“ für das Denkmal hingewiesen. Für den Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, bekennt sich Magdeburg gar als eine der wenigen deutschen Städte „mit dem Denkmal zu ihrer moralischen Verantwortung“.
Im Gegensatz zum Holocaust- Denkmal in Berlin gab es jedoch weder eine Ausschreibung noch eine öffentliche Diskussion, sieht man von einem Artikel in der Magdeburger Volksstimme und einer Vorstellung des Roßdeutscher-Entwurfs im Kulturausschuß ab. Gilsenbach machte sich schließlich unbeliebt, als er 1997 zusammen mit Pee Rattey einen eigenen Entwurf einreichte, in dem auch Unkus Geschichte erwähnt wird. Berücksichtigt wurde er nicht.
Wolfgang Roßdeutscher will mit seinem sechs mal sieben Meter Granitblock den Magdeburgern einen „Stein in den Weg legen“. Und das Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma hat für einen Monat eine Ausstellung über den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma an die Stadt ausgeliehen.
Reimar Gilsenbach hat nun zum dritten Mal darum gebeten, auf dem „Ehrenhain für die Opfer des Faschismus“ Steine mit den Namen der 330 nachweislich ermordeten Sinti setzen zu lassen. Diesmal Ministerpräsidenten Reinhard Höppner. Bisher keine Reaktion. Beim Kulturamt Magdeburg hieß es nur, man solle sich überraschen lassen, die Namen der Ermordeten würden am Tag der Einweihung „eine ganz besonders große Rolle spielen“.
Ob allein ein Denkmal der jüngeren Generation der Magdeburger die Geschichte der Sinti und Roma näherbringen wird? Die Geschichte von Unku wohl mehr. Das Kinderbuch allerdings steht nicht mehr auf dem Lehrplan. Die Autorin war Kommunistin.
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