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Wir sind keine Mafia

Seit einigen Jahren wird die Autorengruppe NETZ mit der Gruppe 47 verglichen. Vernetzt werden Autoren, Texte und Haltungen. Ein Gruppenporträt  ■ Von Norman Ohler

„Sie schuldete mir fünfhundert Schilling. Die wollte ich wiederhaben.“ So lauten die ersten Sätze von Silvio Huonders Kurzgeschichte „Stille Tage in Österreich“. Ein klarer Anfang. Da will jemand einen Urzustand wiederherstellen, und es ist sofort klar, daß das nicht einfach wird. Es ist die Sehnsucht nach Gott – einer Ordnung im Universum: daß wir tatsächlich alles zurückgezahlt bekommen. Doch vorher muß der Ich-Erzähler durch die Wirren der Existenz steigen. Die Schuldnerin macht einen Vorschlag: Sie kauft drei Lose, und wenn ein Treffer dabei ist, darf er alles behalten, auch wenn es die fünfhundert Schilling übersteigt. Die Lotterie des Lebens. Eine bloße Rückerstattung des Geldes wäre langweilig.

„Das NETZ war für mich, als ich noch nicht dazu gehörte, ein Mythos. Ich vermutete, daß dort die besten jungen Autoren der Schweiz versammelt waren. Also stieß ich hinzu“, sagt Silvio Huonder, der aus Chur stammt. 1993 tagte NETZ zum ersten Mal, in einem Bauernhaus im eidgenössischen Ebnat-Kappel. Als im gleichen Jahr das Gründungsmitglied Peter Weber mit seinem Suhrkamp-Erstling „Der Wettermacher“ für Aufsehen sorgte, geriet NETZ in den Blickpunkt und ihre Treffen zu Medien-Happenings, bei denen ruhiges literarisches Arbeiten bald nicht mehr möglich war. Also wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen – was den Mythos nur verstärkte: Was machen die? Wie wichtig sind sie? Wer gehört dazu, wer nicht?

„Wir sind keine Mafia“, erzählt Huonder, sitzt auf einem Sofa in Kreuzberg und schaut auf die gefrierende Spree und den Treptower. „Dient das NETZ speziellen Interessen?“ „Nein“, antwortet Huonder, der in diesem Herbst bei Fischer sein „Übungsheft der Liebe“ veröffentlicht hat. „Wir haben kein Ziel. Außer einen interessanten Verlauf der Geschichte.“ Zunächst gab es im NETZ nur Schweizer, mittlerweile versammeln sich hier Österreicher und Deutsche, eine Riege von Nachwuchshoffnungen. Der deutschsprachige Raum wird vernetzt, mit Texten, Haltungen. Musik aus Wien kommt aus den Lautsprechern.

„An was arbeitest du im Moment?“ „An der „Kampagne gegen Sie“, antwortet Roman Kraner. „Wie in Schweden soll auch bei uns das ,Sie‘ abgeschafft werden, weil es Irritation in der Sprache schafft, die Kommunikation schwächt, ein Standortnachteil für unseren Raum bedeutet – siehe England, USA mit ihrem ,you‘: spontaner, dienstleistungsorientierter. Das ,Sie‘ kostet unsere Wirtschaften eine Menge. Wir müssen diesen Rattenschwanz der Höflichkeit tilgen.“

„Irgendwie kommst du mir bekannt vor“, grinst Felix Kauf, ein 30jähriger Stückeschreiber aus Ebnat-Kappel. „Wir sehen uns heute zum ersten Mal.“ „Vielleicht hastn Allerweltsgesicht.“ Von Kauf ist im NETZ-Lesebuch ein „Monolog für die Frau“ abgedruckt. Darin heißt es: „Wenn Du artig bist, darfst Du uns zugucken. Wenn Du lieb bist, werden wir Dir erlauben, uns anzurühren. Wenn Du Reue zeigst, darfst Du vielleicht unter uns kriechen und wie der Hirsch von frischer Quelle trinken.“

„Das Angenehme am NETZ“, schildert Huonder: „Bei unseren Treffen lesen wir uns unveröffentlichte Texte vor und diskutieren darüber, und plötzlich erkennt man, was noch nicht stimmig ist. Beim Zuhören, was andere darüber meinen, geht mitunter ein Licht auf. Wenn viele Leute darüber reden, kann ich mir verschiedene Positionen anhören und jenes heraussuchen, was mir hilft. Solche NETZ-Treffen finden einmal im Jahr statt, und zwar dann, wenn einer sagt: Jetzt scheint es an der Zeit. NETZ ist Perpetuum mobile. Es funktioniert von selbst. Gespeist allein aus dem Interesse der Autoren, sich zu treffen.“ Eine Yogaübung. „Durch die Texte lernen wir uns kennen“, sagt Kraner.

„Und durch unsere Treffen auf körperlicher Ebene“, fügt Huonder hinzu. Tatsächlich hatten sich in der Nacht zuvor Peter Weber, der aussieht wie Harvey Keitel in „Mean Streets“, Michel Mettler, ein in Aarau wohnender „musikalischer Autodidakt“ (so die Bibliographie des Lesebuchs), und Roman Kraner auf dem Alex getroffen, liefen sich plötzlich in die Arme, unerwartet, in völliger Einsamkeit auf dem riesigen Arreal, eiskalt, mit Handschuhen greifbare Vernetzung auf dem Asphalt: „Ah, der Alexanderplatz, Treffpunkt der Menschen“, sagt Kraner. Mettler antwortet: „Wir wollten uns mal Berlin, Alexanderplatz, reinziehen.“ Dann streben Mettler und Weber in Richtung Roten Salon, während Kraner nach Hause geht und flucht, weil er plötzlich ohne die anderen vor seinem Computer sitzt.

„Das NETZ hat etwas angenehm Flüchtiges“, meint Huonder. „Es trägt dem Nichteinbindenlassenwollen des Schriftstellers Rechnung.“ Es geht im NETZ-Lesebuch um die Entwicklung neuer Liebesformen. Um die große Liebe in jedem Moment, die absolute Verlangsamung der Zeit, bis zum Stillstand, dem gefrorenen Bild, dem Augenblick, der als wichtig erlebt wird. Verlangsamung von Zeit bis zur völligen Erstarrung als Sätze, Buchstaben, schwarze Pünktchen in einem Buch.

Es geht um die große Liebe zu Irina, von der NETZ-Gründungsmitglied Perikles Monioudis in seiner Geschichte „Zwei Tage“ schreibt. Sie spielt in Bosnien und zeigt den Horror und die Lächerlichkeit bei den ersten freien Wahlen dort. Der Schweizer Autor als routinierter, augenzwinkernder Wahlbeobachter. Monioudis ist es auch, der das diesjährige Treffen in das Literarische Colloquium zu Berlin einberufen hat. Das NETZ hat somit zwei organisatorische Standbeine: die Metropole des deutschen Sprachraums und das im Schweizer Toggenburg gelegene Kaff Ebnat-Kappel.

„Das soll eine Spannung zeigen, in der wir leben“, sagt Monioudis, dessen jüngster Roman „Deutschlandflug“ diesen Herbst beim Berlin-Verlag erschienen ist. Das NETZ verbindet Großstadt und Dorf, die Sehnsucht nach Ruhm mit der Notwendigkeit des ungestörten Arbeitens. NETZ ist ein quantenmechanisches Phänomen: Gleichzeitig soll Rummel entstehen und vermieden werden.

Im NETZ-Lesebuch sind zwanzig Texte unterschiedlichster Qualität und Themenauswahl versammelt, die teilweise speziell für das Buch geschrieben wurden. Es gab Interesse von großen Verlagen, aber das NETZ hat die Eigenpublikation gewählt: die NETZ- Press, die von dem 30jährigen Alexander Simon betreut wird. „Willst du auch Romane herausgeben und die NETZ-Autoren von ihren renommierten Verlagen weglocken?“

„Will niemand weglocken“, antwortet Simon. „Allerdings träumen wir davon, die NETZ-Autoren unter dem eigenen Dach zu vereinen. Aber bislang fehlt das Startkapital.“

Es wäre den Autoren jedenfalls zu wünschen, neben den renommierten, althergebrachten Literaturverlagen die Möglichkeit zur Publikation aus den eigenen Reihen, dem eigenen Umfeld heraus zu haben, ähnlich wie dies in der elektronischen Musik längst der Fall ist. NETZ-Press als Label – um dem Satz aus Peter Webers Bahnhofsprosa gerecht zu werden, wo es heißt: „Wir brauchen Dämmerungszonen, Schattenfelder, Unschärfen, fließende Übergänge vom öffentlichen Gleis ins Eigene.“

„Das NETZ-Lesebuch“. Alexander Simon (Hg.) NETZ-Press, Ebnat-Kappel und Berlin 1998, 176 Seiten, 24,80 DM

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