: Geschichten, die Zuhörer brauchen
Sein Vater war Jude und hat 1941 Selbstmord begangen, ihr Vater war SS-Offizier. Gerhard Müller und Hannelore Primus sind ein Paar. Für den Umgang mit der Vergangenheit haben sie sich therapeutische Hilfe gesucht ■ Aus Bad Soden Jens Rübsam
Alfred Müller ist tot. Am Morgen des 24. Februar 1941 nimmt sich der Kölner Versicherungsmathematiker das Leben – die genauen Umstände lassen sich nicht mehr klären. Einen Abschiedsbrief an Frau und Kinder soll es geben, der Wortlaut in etwa: „Ich bin eine Belastung für Euch. Ohne mich wirst Du mit den Kindern besser durchkommen.“ Alfred Müller war Jude.
Otto Hast ist tot. Gestorben an Weihnachten vor zwei Jahren. Wer hält die Grabrede auf den ehemaligen SS-Hauptsturmführer, von dem bekannt ist, daß er für den Führer zuletzt in Rußland im Einsatz war und nach dem Krieg ein florierendes Ingenieurbüro in Frankfurt am Main unterhielt?
„Ohne mich wirst Du besser durchkommen“
Gerhard Müller, 65, Sohn des Juden Alfred Müller und Lebensgefährte von Hannelore Primus, der Tochter des SS-Hauptsturmführers Otto Hast, sitzt im Frühstücksraum der Klinik „Weißes Haus“ im hessischen Bad Soden und wirft Fragen auf – Fragen nach dem, was Martin Walser sagen und Ignatz Bubis zu Bedenken geben darf. Es geht um die Erinnerung an den Holocaust, um Mahnung und um Aufarbeitung. Und es geht um ihn, um Gerhard Müller. Warum stürzt sich sein Vater 1941 in den Rhein? Warum schweigt seine Mutter vier Jahre lang und erzählt erst kurz vor Kriegsende vom Selbstmord ihres Mannes und von dem Abschiedsbrief? Schämt sich die Mutter, die eine Christin ist? Für ihren Mann, den Juden? Und warum hat ausgerechnet er, Gerhard Müller, am Grab des SS-Hauptsturmführers Otto Hast eine Trauerrede gehalten? Nur seiner Lebensgefährtin zuliebe? Weil er einmal evangelische Theologie studiert hat? „Du kannst doch nicht für einen SS-Offizier eine Trauerrede halten“, hat Gerhard Müllers Sohn gesagt.
Später wird Nina Degen, die Chefärztin vom „Weißen Haus“, bei einem Spaziergang durch den Bad Sodener Kurpark sagen: „Herr Müller hat Probleme mit seiner Identität. Seine Mutter hat ihm seine jüdische Herkunft verleugnet.“ Jetzt ist er bei ihr, einer jüdischen Emigrantin aus St. Petersburg, in therapeutischer Behandlung. In dieser Klinik „Weißes Haus“, die seit gut einem Jahr jüdische Patienten betreut, Überlebende der Shoah und deren Nachkommen aus der zweiten und dritten Generation, und die sich „das einzige derartige Behandlungszentrum in Deutschland“ nennt.
Die Küchenhilfe räumt den Frühstückstisch ab. Gerhard Müller und Hannelore Primus, die Erholung sucht von einem Schlaganfall, sitzen noch immer an Tisch sechs, ein wenig apathisch, als wären sie nicht hier in diesem Raum mit den weißgedeckten Tischen und der Weihnachtsdekoration, sondern irgendwo in der Vergangenheit. „Ich bin nicht angekommen in dieser deutschen Gesellschaft“, sagt Gerhard Müller irgendwann. „Ich habe das Gefühl, ein Außenseiter zu sein.“ Wird sich das ändern? „Wir wollen ein neues Leben anfangen“, sagt Hannelore Primus. Schaffen sie das? Vielleicht mit dieser Therapie. Vielleicht lernen sie, mit der Vergangenheit umzugehen. Mit ihr abzuschließen, darum geht es nicht.
Gerhard Müller nimmt die Hand seiner Lebensgefährtin. Sie gehen aus dem Frühstücksraum, langsam, schweigend. Sie sind beide Mitte 60. Seit drei Jahren kennen sie sich – und die Geschichte des anderen. Es sind deutsche Geschichten. Geschichten, die wahnsinng machen können. Die Zuhörer brauchen. Und manchmal auch Hilfe.
An der Rezeption vom „Weißen Haus“ liegt der Rheinische Merkur aus. „Schuld und Erinnern“ ist das Editorial zur Walser- Bubis-Debatte überschrieben; „Ein Mal, kein Mal“ der Kommentar zum Holocaust-Mahnmal-Streit. Der Verwaltungsdirektor der Klinik reicht ein Buch: „Bad Soden am Taunus“, eine Stadtgeschichte. Auf Seite 337 ist zu lesen: 1886 wurde in Soden eine „Kuranstalt für arme Israeliten“ gegründet. „Arme kranke Juden, welche eines Kurgebrauchs bedürfen“ sollten „unentgeltlich Aufnahme“ finden. Sechs Seiten weiter heißt es: Am 10. November 1938 wurde „die Kuranstalt niedergebrannt“. Jugendliche versammelten sich vor dem Haus, johlten, warfen mit Steinen Fenster ein, stürmten das Gebäude, trieben die Kranken heraus, ließen ihnen keine Zeit, sich anzukleiden – dann legten sie Feuer. Ein Nazi wird zitiert: „Na, endlich brennt die Wanzenbude.“ Die meisten der Bad Sodener Juden wurden ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht.
60 Jahre später, Anfang dieser Woche, melden die Zeitungen die Schändung des Grabes von Heinz Galinski, dem ehemaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland. Eine Rohrbombe zerstückelt den Grabstein. Es ist der zweite Anschlag innerhalb weniger Wochen. Der Berliner Innensenator schließt einen rechtsextremistischen Hintergrund nicht aus.
Nina Degen, die Chefärztin, wartet. Sie bittet, in einem großen Ledersessel Platz zu nehmen. „Gerade“, sagt sie, „war Gerhard Müller hier“. Es sei, erzählt Müller später, um einen Rechtsanwalt gegangen, der damals seinen Vater mit seiner jüdischen Herkunft erpreßt hätte.
Der Rechtsanwalt, ein NSDAP-Mitglied, wollte ein Haus der Familie Müller in Danzig an sich bringen. Wieder eine Erinnerung mehr, die Müller helfen kann, die Biographie seines Vaters zu rekonstruieren – Schritt für Schritt und durch Gespräche. „Früher“, sagt Nina Degen, „sind doch viele Patienten, die jetzt hierherkommen, in der Psychatrie gelandet.“ Mit der Shoah umzugehen, mit den Problemen, die die zweite und dritte Generation beschäftigen, sei nicht jedes Arztes Sache.
Nina Degen ist Jüdin, 1989 emigriert aus „Leningrad“ wie sie oft sagt. Heimweh? „Ein wenig.“ Zurück? „Nein.“ Sie richtet sich auf in ihrem großen Ledersessel. Sie fühlt sich angekommen in Deutschland. Vielleicht, weil sie nicht als Jüdin nach Deutschland kam – „das Jüdische durfte ich nie ausleben“ – sondern als Russin. Aber was heißt das schon in diesem Land? Ausländerin? Jüdin? Russin? Keine Kategorie erleichtert die Integration.
„Ich habe das Gefühl, ein Außenseiter zu sein“
Etwa 75.000 jüdische Emigranten aus den ehemaligen GUS-Staaten sind bis heute nach Deutschland gekommen. Die meisten, so eine Studie aus dem Potsdamer Moses- Mendelssohn-Zentrum, aus Angst vor dem „bedrohlichen Antisemitismus in den GUS-Staaten“, aus „Furcht vor Bürgerkriegen“, wegen ihrer „wirtschaftlichen Situation“. „Den jüdischen Emigranten“, halten die Potsdamer Wissenschaftler fest, „wird eine zweifache Integrationsleistung abverlangt“: Das ambivalente Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu den jüdischen Bürgern auszuhalten, sowie in der Jüdischen Gemeinde zurechtzukommen. Meist sind den jüdischen Emigranten kulturelle und religiöse Riten fremd. Jüdischsein ist in der Sowjetunion eine Frage der Nationalität gewesen, keine der Religion. Eine Untersuchung aus den 80er Jahren ergab: Von den gut zwei Millionen Juden in der Sowjetunion waren nur sieben Prozent religiös geprägt. Fühlen Sie sich, Frau Degen, als Jüdin?
Über den Heilquellen im alten Stadtpark quält sich der Dunst, im Teich schwimmen die Enten, als sei es ein Vergnügen in diesen Tagen. Für einen Spaziergang haben wir die Klinik verlassen. Fühlen Sie sich als Jüdin, Frau Degen? Sie bleibt stehen, schaut skeptisch als habe man eine anzügliche Frage gestellt. „Viele“, sagt sie dann, „beschimpfen mich, weil ich mich nicht als Jüdin fühle.“ Ein „zu Unrecht“ erwartet man jetzt. Nina Degen aber sagt: „Meine jüdische Seite zeigt sich darin, daß ich an diesem Projekt mitarbeite“; Juden psychotherapeutische Betreuung anzubieten.
Wie dem jungen Mann, der sich nicht traut, seine Eltern allein zu lassen. Aufgeopfert haben sie sich für ihn, eine schöne Kindheit ermöglicht. Nun, in Deutschland, in der Fremde, will er sie allein lassen? Oder der alte Mann, der anruft und von einem Brand in seinem Haus erzählt und von der Erinnerung an damals und davon, daß ihn diese Bilder nie loslassen.
Oder der Patient Gerhard Müller. Der noch einmal ein neues Leben anfangen will. Mit Hannelore Primus, seiner Lebensgefährtin. Ein neues Leben. Noch gibt es im „alten“ viele Fragen. Zu viele. Die entscheidene: Was ist damals, am 24. Februar 1941, passiert?
Drei Jahre lag die Pogromnacht zurück. Zigtausende Juden waren in Konzentrationslager gebracht worden. Hatte sein Vater weggeschaut? Nichts sehen wollen? Nichts geahnt? War er im guten Sinne gar „deutschnational“? Dachte er, mich wird es nicht treffen? Alfred Müller hatte ein Haus gebaut. War mit seiner Familie an den Kölner Stadtrand gezogen. Hatte noch immer eine gute Stellung in einem Versicherungsunternehmen. Hatte den Vorschlag seiner Frau, nach Zürich zu emigrieren, ausgeschlagen. Und dann dieser plötzliche Selbstmord. Dieser Abschiedsbrief, den Gerhard Müller nur aus der knappen Erzählung seiner Mutter kennt.
Mittagszeit in der Bad Sodener Klinik. Es gibt Salat, Suppe, Fisch und Nachtisch. Koscher gekocht wird nicht. Das „Weiße Haus“, Fachklinik für Psychosomatische Medizin, ist offen für Patienten aller Religionen. Das Behandlungszentrum für jüdische Patienten ist nur eine Abteilung, aber „die wichtigste derzeit“, sagt Nina Degen. Sie holt Fotos aus dem Schreibtisch, die das Laubhüttenfest Anfang Oktober zeigen. Eine Laubhütte auf der Klinik- Terrasse ist zu sehen, ein Rabbiner, Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, viele Patienten, Juden und Nichtjuden. Gerhard Müller sagt, er habe sich heimisch gefühlt. Verbunden mit der jüdischen Tradition.
„Wieso hast du deinen Vater nie gefragt?“
Wir gehen spazieren, durch den alten Kurpark, ins Café „Bonjour“. Hannelore Primus und Gerhard Müller bestellen Tee. Sie versucht Erklärungen zu finden, für ihn. „Deine Mutter hat so lange geschwiegen, weil sie euch Kinder schützen wollte.“ Und der Vater? Was soll sie sagen? Wie kann sie helfen? „Wieso“, will er wissen, „hast du eigentlich deinen Vater nie kritisch nach seiner SS-Vergangenheit gefragt?“ Sie sucht Erklärungen. Sie findet eine: „Ich war doch nach dem Krieg mit meinen eigenen Problemen beschäftigt.“ Und später?
Es wird langes Gespräch an diesem Tag: über einen jüdischen Vater, dessen Gründe für den Selbstmord sich nicht mehr finden lassen; und über einen Vater, der SS- Hauptsturmführer war und von dem nicht bekannt ist, daß er je ein Wort des Bedauerns gefunden hat.
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