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Kultureller Reichtum, soziale Armut

Denken in Zeiten des Doppelpasses. Vom liberalen zum demokratischen Multikulturalismus. Der akademische Diskurs zu den politischen, rechtlichen und sozialen Konsequenzen der ethnischen Durchmischung  ■ Von David Gößmann

Für einen Moment schien es eine Art Offenbarung auf dem Weg zu einer neuen Republik zu sein. Per Koalitionsvereinbarung hatte die rot-grüne Regierung ihr Projekt eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts mit deutlichem Symbolcharakter entworfen.

Das war der Start zu einer unverkennbar deutschen Debatte. Seit der Hessen-Wahl und der Unterschriftenaktion der CDU wird der Aufbruchcharakter der Aktion Doppelpaß freilich stark auf das politisch Machbare heruntergefahren. Doch hinter dem strategischen Nahkampf der Opposition verbirgt sich eine grundsätzliche Problematik, die schon der Berliner Ex-Innensenator Jörg Schönbohm Mitte letzten Jahres mit der Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ auf die Medienbühne zerrte: die Frage nämlich, wie wir uns im Zuge verschärfter Globalisierung zum Phänomen der multikulturellen Gesellschaft verhalten.

Ende der 80er Jahre begann der Begriff der multikulturellen Gesellschaft seine fulminante Karriere. Das Nebeneinander von verschiedenen Kulturen und Traditionen diente anfangs nicht zuletzt als linker Schlachtruf bei der Suche nach neuen Utopien. Ethnien, nicht mehr Klassen, sollten als revolutionäre Subjekte fungieren. Seither assoziiert man Namen wie Daniel Cohn-Bendit, aber auch Heiner Geißler, die sich frühzeitig für die Idee einer multikulturellen Gesellschaft stark machten.

Doch hinter dem schnellebigen öffentlichen Diskurs existiert auch eine Wissenschaft der multikulturellen Gesellschaft. Die Multikulturalismusforschung untersucht die politischen, rechtlichen und sozialen Konsequenzen der zunehmenden ethnischen Durchmischung der Gesellschaften. Jetzt zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Debatte ab: vom liberalen zum demokratischen Multikulturalismus.

Die Trendwende hat natürliche eine Vorgeschichte. Ein Blick in die Genealogie des Reizwortes zeigt, daß die jahrzehntelange Debatte nicht ganz frei ist von Eitelkeiten. Einer der eifrigsten Verfechter der multikulturellen Idee war der politische Liberalismus, wie er sich im anglo-amerikanischen Raum ausgebildet hat. Mit dem Aufeinanderstoßen von Ethnien besaß die liberale politische Philosophie nun ein konkretes Spielfeld für ihre Gerechtigkeitskonzeptionen. Denker wie der Philosoph Charles Taylor versuchten, herausgefordert durch die kommunitaristische These, daß das individuelle Wohlergehen eng verzahnt ist mit der Teilhabe an einer kulturellen Gemeinschaft, eine liberale „Politik der Anerkennung“ von Minderheitenkulturen zu entwerfen. Kulturelle Koexistenz galt fortan als Ideal freiheitlich verfaßter Gesellschaften.

Doch die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Samuel Huntington feuerte Mitte der 90er Jahre eine Breitseite gegen den Multikulturalismusbegriff. Sein Buch „Clash of civilisation“ konstatiert die gegenseitige Abkapselung der Kulturen und beschwört die kulturelle Identität gegen die islamische Bedrohung. Aber nicht nur bei Propagandisten einfacher Weltbilder wie Huntington machte sich Unmut breit. Immer öfter gelangte der Begriff Kultur ins Schußfeld liberaler Reflexion. In „The multiculturalist misunderstanding“ (1997) beklagt der afroamerikanische Sozialphilosoph Kwame Anthony Appiah von der Harvard- Universität die Tendenz, Probleme des Zusammenlebens lediglich auf Probleme kultureller Fremdartigkeit zu reduzieren. Statt dessen fordert er mehr Aufmerksamkeit für die Herausbildung sozialer Identitäten.

In Deutschland stand der Begriff der multikulturellen Gesellschaft immer in Gefahr, in lauschige Multikultifolklore abzurutschen. Ein Grund für viele Fachwissenschaftler, der Debatte die kalte Schulter zu zeigen. Um so verdienstvoller ist es, daß die Deutsche Zeitschrift für Philosophie (Heft 5/1995 und Heft 3/1998) gleich zweimal einen Schwerpunkt einrichtete zum Thema Multikulturalismus und in das Gestrüpp der Meinungen einige begriffliche Pfade schlug. Es zeichnen sich dabei neue Tendenzen und Fragestellungen in der Debatte ab. Eindringlicher als bisher wird die Frage nach dem Recht auf Selbstbestimmung diskutiert. Denn seit der Auflösung des sowjetischen Machtblocks und den Bürgerkriegen im zerfallenden Jugoslawien treten eine Vielzahl von nationalen Minderheiten mit dem Anspruch auf, das Recht auf staatliche Souveränität zu erhalten. Prof. Iris Marion Young von der Universität in Pittsburgh kritisiert den liberalen Nationalismus und fordert angesichts der übernationalen Schwierigkeiten ein Konzept unterschiedlicher Völker, eine Art „globaler Demokratie“. Multikulti goes big politics.

Daneben unterscheiden die Forscher stärker als früher zwischen unterschiedlichen Typen von kulturellen Gemeinschaften. So hat der Kanadier Will Kymlicka in seiner Schrift „Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights“ (1995, bisher nicht ins Deutsche übersetzt) versucht, die Rechte von Minderheitenkulturen aus liberaler Perspektive zu begründen. Hinausgehend über die Staatsbürgerschaftsrechte fordert Kymlicka Sonderrechte für Minoritäten wie ein Selbstverwaltungsrecht, polyethnische Rechte (z.B. Ausbildungsinstitutionen) und besondere Repräsentationsrechte.

Ähnlich wie beim Nationalismus hagelt es auch hier „demokratische“ Einwände gegen den Liberalismus. Es gibt ja durchaus Kulturen, die die liberalen Freiheitsrechte nicht akzeptieren. Und an diesem Punkt beginnt das Dilemma des liberalen Multikulturalismus: Die Verteidigung universeller liberaler Freiheitsprinzipien geht so weit, daß selbst vormoderne, illiberale Kulturen unter Protektion gestellt werden. Die liberale Katze beißt sich gewissermaßen in den multikulturellen Schwanz.

Um diesen Mißstand zu umgehen, beklagt eine neue Generation von Multikulturalismusforschern zu Recht die fehlende sozialpolitische Reflexion. José Brunner und Joav Peles von der Universität Tel Aviv stellen in ihrem gemeinsamen Artikel (DZPhil, Heft 3/1998) dem liberalen den demokratischen Multikulturalismus gegenüber. Statt wie die liberale Position politische Partizipation von Minderheiten auf Schutzmaßnahmen zu reduzieren, fordern sie die Einbettung der kulturellen Autonomie in soziale und ökonomische Kontexte und in die Kultur der Mehrheit. Die „Kulturpolitik der Differenz“ müsse, so die Autoren, schlüssig verknüpft werden mit einer „Sozialpolitik der Gleichheit“.

Was heißt das konkret? Brunner und Peled sind z.B. skeptisch, was das palästinensische Schulsystem in Israel angeht. Dieses leiste zwar einen Beitrag zur Erhaltung der palästinensisch-arabischen Kultur (im Sinne des Liberalismus), doch schließe es die Schüler gleichzeitig aus von der Mehrheitssprache des Hebräischen und damit von Wirtschaft, Verwaltung und dem Bildungswesen. Ihr argumentativer Gegenvorschlag lautet: Statt wie bisher pauschal von Selbstbestimmungsrechten auszugehen, sollte operational entschieden werden, ob eine kulturelle Praktik schützenswert ist oder nicht. Als Kriterium dient die Gewährung von Lebenschancen und die Ausbildung von Fähigkeiten. Kulturelle Praktiken, die sich nicht in die sie umgebende Gesellschaft konvertieren lassen oder den Zugang zu ihr versperren, wird der demokratische Multikulturalismus ablehnen, der liberale Multikulturalismus wird sie unter Umständen fördern.

Die Einführung von Islamunterricht an deutschen Schulen, wie sie jüngst vom Berliner Theologen Richard Schröder und vom früheren Bildungsminister Jürgen Rüttgers gefordert wurde, müßte für einen demokratischen Multikulturalisten durch dieses Nadelöhr sozioökonomischen Kalküls. Fördert es die Teilnahme der türkischen Minorität an der Gesellschaft, oder benachteiligt sie ihre Mitglieder? Denn es kann durchaus im Interesse der Mehrheitskultur liegen, den Zugang der Minderheit zum größeren Arbeitsmarkt zu beschränken, indem man ihr kulturelle Autonomie gewährt. Kultureller Reichtum, aber soziale Armut.

Von der „ökonomischen Sicht auf die Reichtümer einer Minderheitenkultur“, wie man mit dem französischen Sozialphilosophen Pierre Bourdieu sagen könnte, wird man zwar keine allgemeinen Richtlinien für die Politik erwarten dürfen. Doch ist der Weg bereitet, den in der gegenwärtigen Debatte durchlauferhitzten Begriff der Integration mit mehr Leben zu füllen. Wo die konservative Kritik oft bloße Anpassung an die „Leitkultur“ meint (ohne es immer so auszudrücken), interessiert den demokratischen Multikulturalisten die Eigenart unterschiedlicher Minoritäten und die sozioökonomische Einbindung ihrer kulturellen „Währungen“.

Der multikulturelle Diskurs ist in seiner demokratischen Variante meilenweit davon entfernt, eine beliebige Haltung des Anything goes zu präferieren. Die engagierte Multikulti-Gesinnungsethik ist längst begrifflich umgeschaltet auf Max Webersche Verantwortungsethik. Obsolet sollten damit auch die allergischen Reaktionen sein, mit denen Politiker, Wissenschaftler, Intellektuelle und Otto Normalverbraucher auf das Reizwort reagieren. Es geht vielmehr darum, Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Minoritäten motiviert werden, an den Arbeits- und Lebenswelten der Gesellschaft aktiv teilzunehmen. Die „Operation Doppelpaß“ ist eine Sache. Eine andere ist es, gesamtgesellschaftlich die Entwicklung einer reicheren, pluralistischen Kultur voranzutreiben.

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