: Arbeit an der zweiten Vergangenheit
■ Rot-grüne Außenpolitik: Joschka Fischer und die Umarbeitung linker Gesinnung der 68er-Generation in eine außenpolitische Strategie
Das Lob außenpolitischer Kontinuität ist dem politischen Milieu, dem der zuständige Minister Joschka Fischer entstammt, eher verdächtig. An die Stelle gemeinsamer Bauzaun- und Sitzblockadenerfahrung ist Protokolltreue und Verfahrenssicherheit getreten. Die politische Bewegung von einst, so mag es manchen Weggenossen erscheinen, hat Fischer an das tägliche Lauftraining verraten. Den Außenminister linker Provenienz denkt man sich als Protestnoten verkündenden und eifrig Resolutionen verteilenden Flugreisenden im Auftrag des Weltfriedens.
Erst kürzlich beklagte der iranische Schriftsteller Faradsch Sarkuhi im Rahmen einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung die schweigende Zurückhaltung von Rot-Grün (siehe taz vom 5.2.). Angesichts der Ermordungen iranischer Intellektueller hätte Sarkuhi zumindest „offiziellen Protest“ erwartet. Der wird vorerst wohl auch gegenüber China ausbleiben. Auf einer Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen wird es seitens der Bundesregierung keine Verurteilung der chinesischen Regierung per Resolution geben. Zögerliche Haltungen wie diese haben Fischer die vorläufig schlimmste Beurteilung eingebracht: nicht anders als Kinkel.
Der Satz verdient eine genauere Betrachtung. Klaus Kinkels innere Einstellung zum Schutz der Menschenrechte blieb stets diffus. Bereits 1992 hatte er in seiner ersten großen Rede vor der 47. Generalversammlung der Vereinten Nationen gesagt: „Die Deutschen im Westteil unseres Landes hatten 1945 das Glück, eine freie, demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft aufbauen zu können. Die Menschen im anderen Teil Deutschlands mußten bis 1990 ein weiteres Unrechtsregime ertragen. Wir sind wahrlich gebrannte Kinder! Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß ohne Achtung der Menschenrechte kein erfülltes und würdiges Leben möglich ist.“
An Klaus Kinkels Rede fiel die passivische Beschreibung auf, die letztlich eine Verwischung der Zurechnungsfrage deutscher Schuld beinhaltete. Die Deutschen, so stellte Kinkel es dar, waren Opfer zweier Unrechtsregime. Beim Spiel mit dem Feuer, interpretierte seinerzeit der Soziologe Heinz Bude in der Zeitschrift Merkur, hatten sich die Deutschen in ihrem Jahrhundert die Finger verbrannt. Wegen dieser Erfahrungen, so Kinkel, werden wir uns die Menschenrechte zu einem zentralen Anliegen unserer Politik machen. Kinkels verschwiemelte Formulierungen hinterließen einen schalen Beigeschmack. Sein Auftritt vor den Vereinten Nationen wirkte eigentümlich geschichtslos.
Joschka Fischers Geschichtsbewußtsein ist ein entschieden anderes. 1948 geboren, gehört er zu den jüngeren Jahrgängen der 68er Generation, deren politische Fixierung deutlich von zwei Komponenten geprägt ist. Das tiefe Bedürfnis, das Schweigen und die Schuld der Generation der Kriegsteilnehmer zur Sprache zu bringen, mündete um 1968 in einen antikapitalistischen, internationalistischen Kampf für Menschenrechte. Diese Erfahrung ist neben der ökologischen Orientierung bis heute der ideologische Kern der rot-grünen Regierung, die wie keine Bundesregierung zuvor altershomogen und erkennbar durch den Generationszusammenhang von 1968 definiert ist. Der tatsächliche Wechsel vom 27. September ist vielleicht noch keiner der Politik, aber ganz gewiß einer von Haltungen. An die Stelle des erfolgreich abgeschlossenen Modells Deutschland muß das Bewußtsein eines aufgeklärten Staates mit hoher Entscheidungskompetenz treten. Joschka Fischer arbeitet bereits an einem solchen Projekt. „Sie glauben doch nicht wirklich“, sagte Joschka Fischer kürzlich in einer Runde vor Journalisten in Bonn, „daß ich bei meiner Zurückhaltung bezüglich der iranischen Situation das Wohl des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Sinn habe?“
Daß der heroische Blick auf 1968 nicht zuletzt in außenpolitischer Hinsicht einer Revision bedarf, darauf hat der Historiker Dan Diner in der Zeit verwiesen. „In der Studentenbewegung“, so Diner, „herrschte neben allem anderen eine Art Wiederholungszwang. Einerseits wollte man sich von den eigenen Eltern absetzen, andererseits hat man symbolisch und auf verschobene Weise Wiederholungen jener Geschichte ausgelebt, gegen die man angetreten war.“ Der Terror der RAF war so gesehen eine Durcharbeitung des Holocausts. Aus einem überschäumenden Universalismus in Gestalt von Antikolonialismus und Antiimperialismus, so Diner, wurden die eigenen Schuldgefühle wegen des Holocausts verleugnet. Das führte einige der damaligen Protagonisten direkt in palästinensische Trainingslager. Joschka Fischer, so vermutet Dan Diner, wird sich bei seinem bevorstehenden Besuch in Tel Aviv noch einmal der linken Parole „Zionismus = Rassismus“ erinnern müssen. Fischer wird, ob er will oder nicht, sich als ein Repräsentant der 68er Intellektuellen mit linken Positionen von einst auseinandersetzen müssen.
Es deutet einiges darauf hin, daß er seine historische Lektion gelernt hat. Im Gegensatz zu Kinkel, dessen Geschichtsverständnis auf der Nullstellung von 1945 beharrte, verfügt Fischer über die Erfahrung einer nicht unproblematischen zweiten Vergangenheit nach 1945. Es war keineswegs nur das Gebilde eines bösen Staates, der für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu machen war. Joschka Fischer kommt das Verdienst zu, seine Partei auf eine allmähliche Verabschiedung von einem luxuriösen, weil verantwortungsfreien Pazifismus eingeschworen zu haben.
Die Arbeit des Amtsinhabers Fischer besteht nicht zuletzt aus dem Abtragen ideologischer Altlasten. Das zeigt seine schmerzhafte Beschäftigung mit der Frage von Militäreinsätzen der internationalen Gemeinschaft, um sinnloses und unaufhörliches Blutvergießen verhindern zu können. Die vergangenheitspolitische Option der Deutschen, sich heraushalten zu können, besteht nicht mehr. Auschwitz, das ist die neue Grundlage deutscher Außenpolitik nach 1989, kann als Argument sowohl für als auch gegen einen Militäreinsatz in Krisengebieten herangezogen werden.
Was abschätzig als Kontinuität Kinkelscher Außenpolitik beschrieben wird, könnte sich als bedeutsamer Bruch einer ganzen Generation mit der eigenen Herkunftsgeschichte erweisen. Wenn nicht alles täuscht, besteht Fischers Projekt zu großen Teilen aus der Umarbeitung altlinker Gesinnung in eine verantwortliche politische Strategie. Harry Nutt
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