■ Nach der Verschleppung Öcalans imaginieren sich die Deutschen als Opfer, und die extremistische Mitte treibt Rot-Grün vor sich her. Nicht die Regierung, sondern die Opposition bestimmt die Tonlage der Debatte: Ablenken und desinformieren
Mit seiner Flucht nach Europa versuchte PKK-Chef Abdullah Öcalan die „kurdische Frage“ zu internationalisieren. Nationale Befreiungsbewegungen wie die PLO schickten zu diesem Zweck in den 70er Jahren noch Kommandos, um zum Beispiel Flugzeuge zu entführen. Der Generalsekretär der PKK hingegen war so entgegenkommend, den sozialdemokratischen Regierungen Westeuropas sich selbst als Geisel anzubieten. Die Bundesregierung wollte Öcalan nicht, obwohl von ihr in Italien ein internationaler Haftbefehl gegen ihn vorlag. Und die Regierungen Italiens und Griechenlands versuchten vergeblich, andere europäische Staaten von der US-amerikanisch-türkischen Linie abzubringen.
Im Südosten der Türkei und dem Norden des Iraks führt das türkische Militär, gemeinsam mit kurdischen Feudalherren, seit 15 Jahren einen grausamen Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung und die PKK. Aus geostrategischen Interessen sind die westlichen Staaten mit dem türkischen Regime und den feudalistischen Organisationen der irakischen Kurden verbunden.
Auch die Bundesrepublik Deutschland, das ist allgemein bekannt, ist militärisch, ökonomisch und politisch in der Region stark engagiert. Warum behauptet die politische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik dennoch, man sei in die Abläufe im Nahen Osten nicht verwickelt? Getreu der Logik „Angriff ist die beste Verteidigung“ empört man sich statt dessen über das Verhalten der Kurden nach Öcalans Festnahme. Angesichts ihrer Proteste soll nun von untergeordneter Bedeutung sein, daß die Verschleppung Öcalans durch MIT und CIA ein staatsterroristischer Akt war. Ablenken und desinformieren ist das Gebot der Stunde.
In Berlin versuchten letzte Woche kurdische Demonstranten das israelische Generalkonsulat zu besetzen. Die meisten Demonstranten waren aus spontaner Wut und Betroffenheit über Öcalans Festnahme auf die Straße gegangen. Sie vermuteten, wie viele Journalisten, eine Beteiligung des israelischen Geheimdienstes an der Aktion in Kenia, die gegen das Völkerrecht verstieß. Israelisches Sicherheitspersonal feuerte in die unbewaffnete Menge. Drei Menschen starben, 14 Menschen wurden durch Schüsse zum Teil lebensgefährlich verletzt. Gesicherte Angaben gibt es bis heute weder zum Tathergang noch zu den beteiligten Personen. Um die kurdische Gemeinde zu verunsichern, wurde noch Tage später die Identität der Erschossenen, Verletzten oder Verhafteten verschwiegen. Und die Proteste gegen die Verschleppung Öcalans und die Türkei-Politik der Bundesregierung wurden kurzerhand allesamt unter PKK- Verdacht gestellt. So konnten die Proteste nach Belieben kriminalisiert werden. Ähnlich verfuhren die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden bereits in den 70er und 80er Jahren. Den damals starken autonomen Bewegungen unterstellte man Verbindungen zur RAF, um sie zu isolieren und politisch leichter unterdrücken zu können.
Die Muster von Verdrehung und Hetze wiederholen sich. Die Konservativen schaffen es, dank Unterstützung der Medien, ihre Hegemonie zu sichern. Solange ihnen selbst die rot-grünen Kommentatoren hinterhertappen, haben sie leichtes Spiel. „Die Folgen der beabsichtigten Konsulatsbesetzung haben sich die PKK-Anhänger zu einem gut Teil selbst zuzuschreiben“, kommentierte die regierungsnahe taz kurz nach den Schüssen. Wird sie sich dessen in ein paar Wochen noch so sicher sein? Solche Sätze schreiben sich leichthin, andere haben sie wie Klötze am Bein. In absurder Verkehrung der Ereignisse titelte die BZ am letzten Wochenende von einem „Kurdensturm auf Berlin“. Die Bild-Zeitung ging gleich einen Schritt weiter: „Im Klartext: raus mit den Terrorkurden“. Im Duktus der Rechtsextremen kommentiert der ehemalige CDU-Regierungssprecher Peter Boenisch: „Schieben wir wirklich mal einen Gewalttäter ab, ist er gleich wieder da. Womöglich noch mit Verwandten an der Hand und (oder) Rauschgift im Gepäck. Diese liberale Republik droht ein Staat von Weicheiern zu werden.“ Solchen Reden folgten im Deutschland der 90er Jahre noch immer die entsprechenden Taten.
„Stur geradeaus ist nicht der grüne Weg“, sagte der grüne Spitzenpolitiker Daniel Cohn-Bendit nach den verlorenen Landtagswahlen in Hessen. Er meinte damit, es sei klüger, bei der Reform des Staatsbürgerrechts der CDU/ CSU nachzugeben, als den völkisch-nationalen Populisten weiter Nahrung zu liefern. So kann man die Debatte – um die formale Gleichstellung aller in Deutschland lebenden Menschen unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht – auch ohne wesentliche Reform zu Ende bringen.
Formal regiert zwar Rot-Grün, tatsächlich ist es aber die CDU/ CSU, die aus der „Opposition“ heraus den Ton angibt. Sozialdemokraten und Grüne lassen sich von der extremistischen Mitte vor sich her treiben oder sind Bestandteil von ihr. Bundesinnenminister Otto Schily erklärte, straffällig gewordene Kurden türkischer Nationalität möglichst ausweisen zu wollen. Warum diese immer wieder geforderte Sonderbehandlung für Leute, die teilweise seit Jahrzehnten hier leben? Aus populistischen Gründen verschweigt die SPD, daß viele, die hier unter Sonderrecht gestellt werden, einst als Arbeitskräfte angeworben wurden und ein Recht haben, hier zu leben. Und was ist mit den kurdischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Wohin will man sie schicken? In die türkischen Gefängnisse oder etwa zurück in ihre Dörfer? Tausende kurdische Dörfer wurden in den 90er Jahren zerstört, ganze Landstriche entvölkert, die lokalen Ökonomien ruiniert.
Die Ausweisung Abdullah Öcalans aus Syrien folgt der von den USA im Irak-Krieg verkündeten „Neuen Weltordnung“, der veränderten Kräftekonstellation nach dem Zusammenbruch der UdSSR.
Aus relativ durchsichtigen Erwägungen imaginierte sich die bundesrepublikanische Öffentlichkeit bei den kurdischen Protesten der letzten Tage wieder einmal als Opfer, nur um den tatsächlichen Opfern selber noch eins draufzugeben. Offensichtlich sind Grüne und SPD nicht willens oder nicht in der Lage, differenzierte politische Sachverhalte gegen den rechten Konsens zu formulieren. Vielleicht einfach einmal so naheliegende Dinge zu formulieren, daß es ganz und gar nicht okay ist, Waffen und Urlauber in die Türkei zu schicken, aber einen Öcalan nicht haben zu wollen. Auch wenn Schäuble und seine Freunde dem möglicherweise nicht zustimmen werden. Andreas Fanizadeh
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