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"Die Situation der Patienten hat sich verbessert"

■ FU-Psychologe Dieter Kleiber, der das Schweizer Modellprojekt zur kontrollierten Heroinabgabe für die Weltgesundheitsorganisation WHO begutachtet hat, über Durchführung, Ergebnisse und Per

taz: In der Schweiz gibt es die kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstabhängige bereits seit fünf Jahren. Sie haben das dortige Modellprojekt für die Weltgesundheitsorganisation WHO wissenschaftlich begutachtet. Wie ist es abgelaufen – ganz praktisch?

Dieter Kleiber: Das Heroin ist unter ärztlicher Kontrolle in der gesamten Schweiz an über 1.000 Patienten abgegeben worden. Grundregel bei dem Modellversuch war, daß die Patienten drei- oder viermal täglich zu ihrer Behandlungsstelle gegangen sind und dort Heroin kontrolliert injiziert bekamen. Sie wurden zu Beginn identifiziert und ihre Dosis im Computer vermerkt, bei Nichterscheinen wurde sie reduziert, um Überdosierung zu vermeiden. Den Patienten wurde grundsätzlich kein Stoff mitgegeben.

Was waren das für Behandlungsstellen?

Es gab insgesamt 17 speziell ausgestattete Behandlungseinrichtungen, in denen jeweils zwischen 40 und 120 Patienten versorgt wurden. Sie hatten sieben Tage in der Woche geöffnet. Zum Teil sind diese Behandlungsstellen, in denen Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter gearbeitet haben, neu eingerichtet worden. Andere haben bereits als Methadonambulanzen gearbeitet. Durch die häufigen Kontakte mit den Patienten wurde auch die psychosoziale Betreuung recht intensiv. Niedergelassene Ärzte und Apotheken waren ausgeschlossen.

Woher kommt das Heroin, und wie teuer ist es?

Das Heroin wurde meines Wissens von einem Hersteller aus England importiert. Die Kosten für den gesamten Versuch lagen bei 50 Franken, also 60 Mark, pro Tag pro Patient inklusive Personalausstattung, Behandlungseinrichtung, wissenschaftliche Begleitung.

Was für Kriterien mußten die Patienten erfüllen, um in das Programm aufgenommen zu werden?

Stichwort ist die „Therapie als Ultima ratio“. Heroin wurde an volljährige sogenannte schwerstabhängige Drogenkonsumenten abgegeben, die in anderen Behandlungen wie Methadon- oder Abstinenztherapien mehrfach gescheitert waren oder trotz mehrjähriger Abhängigkeitsdauer bisher therapeutisch überhaupt nicht erreicht wurden.

Wie sieht das Ergebnis aus?

Dafür müssen wir zunächst kurz über die Ziele sprechen, die man mit dem Modellprojekt erreichen wollte. Sie sind bei der Heroinverschreibung prinzipiell dieselben wie bei anderen Angeboten: Man will die Abhängigkeit, Erkrankungs- und Sterberaten minimieren und die körperlichen und sozialen Fähigkeiten maximieren. Ziel ist zudem, neue Patienten zu erreichen. Außerdem sollen soziale und berufliche Integration gefördert, die Anzahl von HIV-Infektionen, kriminelles und antisoziales Verhalten gesenkt und die Wiedereingliederung in den Beruf gefördert werden.

Sind diese Ziele erreicht worden?

Das wichtigste Ergebnis des Schweizer Versuchs ist, daß gezeigt wurde, daß die Heroinverschreibung machbar ist und keine negativen Nebeneffekte für die Gesellschaft hat. Es gab ja zum Beispiel die Befürchtung, daß der Stoff auf dem Schwarzmarkt auftauchen würde. Das ist nicht der Fall.

Und die anderen Ziele?

Die gesundheitliche und psychosoziale Situation der Patienten hat sich eindeutig verbessert. Nur ein paar Zahlen: Nach 18monatiger Therapie war der Anteil obdachloser Patienten von vorher 12 auf 1 Prozent geschrumpft. Waren vor der Behandlungsaufnahme 9 Prozent institutionell untergebracht, so waren es hinterher nur noch 2 Prozent. Vor Behandlungsbeginn hatten nur 12 Prozent einen Arbeitsplatz, nach 18 Monaten waren es 32 Prozent. Entsprechend stieg der Anteil schuldenfreier Drogenkonsumenten von 15 auf 34 Prozent.

Gibt es auch Nachweise dafür, daß die Beschaffungskriminalität zurückgegangen ist?

Die Kriminalitätsrate ist innerhalb von 12 bis 18 Monaten um 50 Prozent zurückgegangen, insbesondere bei Warenhausdiebstählen und Einbrüchen. Und dies fußt nicht, wie immer wieder behauptet wird, nur auf Selbstberichten der Patienten, sondern wurde auch an objektiven Daten wie Polizeiauskünften überprüft.

Was halten Sie von der Kritik an dem Schweizer Versuch, zum Beispiel, daß es keine wissenschaftliche Kontrollgruppe gegeben hat? Unklar ist auch, ob der positive Effekt wirklich durch die Heroinabgabe selbst oder durch die begleitende intensive psychosoziale Betreuung erreicht wurde.

In der Tat hat der Schweizer Modellversuch nicht alle Fragen beantwortet, deshalb sind auch weitere Versuche notwendig. Darin muß der Effekt der psycho- sozialen Begleitung überprüft werden. Es könnte sein, daß eine intensivere psychosoziale Begleitung auch bei anderen Behandlungsmethoden zu denselben Effekten führt.

Sie sind dafür, daß sich Berlin an dem bundesweiten Modellprojekt beteiligt. Was spricht aus wissenschaftlicher Sicht dafür?

Ein solcher Versuch ist in erster Linie dort sinnvoll, wo bereits ein differenziertes Behandlungsangebot existiert, und das ist hier der Fall.

Außerdem hat Berlin mit etwa 8.000 Heroinabhängigen eine hinreichend große Zielgruppe für einen solchen Versuch und eine drogenpolitische Tradition, in der man ergebnisoffen an ein solches Experiment herangehen kann.

Interview: Sabine am Orde

Prof. Dr. Dieter Kleiber ist Psychologe und leitet das Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung an der FU

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