■ Schlagloch: Barmherzigkeit für den sozialen Bodensatz Von Mathias Greffrath
„Eine Rückkehr zu jener Normalität der Ungleichheit (hat begonnen), mit der die Menschheit seit den Tagen der Pharaonen und ihrer Fellachen immer leben mußte.“ Jan Ross, „Die neuen Staatsfeinde“
Hatte jemand im Ernst erwartet, daß bei der Februarsitzung des Bündnisses für Arbeit etwas herauskommt? Zügig setzt die Regierung allein die Politik ihrer Vorgängerin fort: AB-Maßnahmen und außerbetriebliche Ausbildung für die Jugendlichen, Senkung der Sozialabgaben und Unternehmenssteuern – und im Qualm der Opferfeuer mit geschlossenen Augen um neues Wachstum beten. Selbst die „Erneuerer“ der SPD, Clement und Hombach, so kritisiert es im Februarheft des Merkur Jan Ross, glaubten noch, daß die wachsenden Ungleichheiten nur „Übergangsphänomene“, also nur eine Frage des Vorankommens seien. „Zombiehaft“ sei diese Wiederkehr des Fortschrittsglaubens; die Berliner Republik brauche eine Stunde Null, eine Besinnung darauf, wie die in Zukunft unvermeidlich wachsende Ungleichheit „in Freiheit zu ordnen“ sei.
Machen wir uns ehrlich – das ist des jungen Konservativen Ross' Pathos, leugnen wir nicht länger die „Herausbildung einer verfestigten, auf Dauerunterstützung angewiesenen Schicht von Langzeitarbeitslosen“, die im „Rundlauf von Wirtschafts- und Sozialsystem“ überflüssig sei – ein „Bodensatz“ von „ökonomisch nutzlosen Existenzen“, eine „Unterschicht der Überforderten“, kein Industriepoletariat, eher vergleichbar dem „Bettelvolk“ früherer Zeiten“; nicht länger – wenn auch temporär funktionslose – Bestandteile, sondern „Ausgeschlossene“.
Dem frischen Realismus folgt als konservativer Schatten das fatalistische Einverständnis: Nach hundert Jahren Bismarck und SPD geht es wieder auf die Normalität der Ungleichheit zu, diesmal globalisierungsbedingt auf eine neue Dreiklassengesellschaft: oben eine weltoffene, „mobile und veränderungslustige Elite“, darunter eine „Mitte, die sich abstrampeln muß“, und unten eben jener „Bodensatz von Ausgeschlossenen“.
Was tun also? Ross denkt radikal vor: die „Fürsorge“ für den „Bodensatz“ müsse wohl wieder die „klassische Gestalt von caritas und Barmherzigkeit“ annehmen. Aber das vorbürgerliche Almosen soll vom Makel des Gnadenaktes demokratisch gereinigt werden – das ist der philosophische Kern des „leistungsunabhängigen Grundeinkommens“, das er, Biedenkopf und Miegel folgend, vorschlägt. Das aber heißt, daß die Gesellschaft wieder politisch entscheiden müsse – über ein Bürgerminimum, das „gerade noch humane Lebensbedingungen“ sicherstelle.
Der Vorstoß ist philosophisch. Denn ein Bürgerrecht auf Barmherzigkeit, wie Ross es fordert, ist ein kategorialer Schritt über die bestehende Gesellschaft, ja, über den Begriff der Gesellschaft selbst hinaus. Denn wo nicht der Reichtum der Gesellschaft zum Maßstab der Umverteilung wird, sondern die Zahl der prinzipiell Überflüssigen zum Maß des Menschenwürdigen, da wird die bürgerliche, also durch die Arbeit integrierte Gesellschaft zugunsten eines gesellschaftstheoretischen Bastards, einer Art feudalen Quadratur des kapitalistischen Kreises, verlassen; die grundsätzliche demokratische Gleichheit der Bürger verwandelt sich in das grundsätzliche soziale Abhängigkeitsverhältnis von Alimentierten und Zuwendern.
Aber auch versorgter Pöbel ist gefährlich, wenn keine „ideellen Bindungskräfte“ ihn davon abhalten, im KaDeWe Rolltreppe zu fahren. „Umverteilung“ reicht nicht, neue Beziehungen der „Teilhabe“ für „Überforderte“ müssen her, „echte Dienstbotenverhältnisse“, die nur „scheinbar rückwärts, in eine feudalistische Vorzeit“, weisen, eigentlich aber modern, weil die einzige „Beschäftigungshoffnung für die Modernisierungsverlierer“ sind.
Mit kühnen semantischen Vorstößen transzendiert Ross 200 Jahre bürgerlicher Gesellschaft nach vorn und hinten gleichermaßen. Hier geht es nicht mehr um den „Reichtum der Nation“, von dem das bürgerliche Denken als von einem gemeinschaftlich erarbeiteten dachte, den es zu verteilen gelte, wenn auch nach schwankenden und umkämpften Maßstäben der Gerechtigkeit. Sondern hier gewähren die Bewohner der produktiven Burgen – die neue Mitte – den Überflüssigen im Umland aus Barmherzigkeit ein Minimum, das „gerade noch“ menschlich ist.
Daß der globale Wirtschaftsprozeß mit Zwangsläufigkeit „Modernisierungsverlierer“ hervorbringt, ist als globale Ideologie weitgehend akzeptiert. Prinzipiell steht Ungleichheit nicht mehr in Frage. Aber immer noch können die „Demütigungsgefühle der Fortschrittsopfer“ gefährlich werden, wenn sie von Ressentimentpolitikern ausgebeutet werden, die etwa am „Sozialdeutschtum“ festhalten mit seinem „Nachgeschmack von Volksgemeinschaft“. Soziale Ungleichheit müsse deshalb als „Spielart von Differenz, Verschiedenheit, Vielfalt“ akzeptiert werden. Wer nicht „ruhigen Blutes“ erträgt, daß der Nachbar Mercedes fährt, sei eben auch rassismusgefährdet. „Linke Globalisierungskritik“ und „rechter Fremdenhaß“ seien wie geschaffen für die „Verschmelzung zu einer Art nationalsozialistischer Abgrenzungsideologie“ gegen Ausländer und Juden. Nach dieser Logik gerät allmählich selbst der harmloseste Gedanke über soziale Marktwirtschaft zur Radikalität, die von der liberalen Präventivpädagogik in Randbereiche definiert wird.
Warum ist das politische Denken über die Zukunft der Arbeit so phantasielos? Warum landet Ross' Befreiungsschlag, der den Irrglauben an die Rückkehr der alten Vollbeschäftigung aufgibt, bei einem Turbofeudalismus, in dem die Eliten von Kapital und Wissen die Überflüssigen durchfüttern oder zu Dienstboten machen? Wieso landen fast alle so schnell bei der Frage: Was müssen wir den Überflüssigen geben, bevor sie über kreative Umverteilung nachgedacht haben, über eine unter wankenden Randbedingungen notwendig werdende Verstärkung des öffentlichen Reichtums an Mobilität, Gesundheit, Bildung, Kultur, damit wir auch unter neuen Bedingungen das Versprechen auf Chancengleichheit in jeder Generation aufrechterhalten können – das einzige, das Bürger zusammenhält? Wieso ist die Frage, was könnten alle – auch die Gebenden – bei einer Umverteilung von (gerade auch qualifizierter) Arbeit gewinnen, nicht parlamentsfähig? Wie kommen intelligente Leute auf ein Gesellschaftsmodell, in dem es nur die Klassen der „Tüchtigen“ und der „Überforderten“ gibt?
Liegt das wirklich nur daran, daß die neue Mitte, die ja alle Führungskräfte, alle Meinungsmacher, alle Theoretiker, alle Ideologien stellt, sich – zu Recht – nicht vorstellen kann, daß ein Leben mit Reihenhäusern, Gymnasien, Nobelitalienern, Erster-Klasse-Medizin, vollem Arbeitstag für beide Eheleute mit Hausgeistern, drei langen und vier kurzen Urlauben und steuersparenden Investitionen nicht verallgemeinerbar ist, aber sich auch nichts Neues vorstellen will? Das wäre sehr einfach, aber der flüchtigste Blick in Redaktionen, Vorstandsbüros und Kanzlerämter belehrt uns: Es ist wohl so.
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