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Frühlingswetter neben Chrysanthemen

Ende des Parteichinesisch: In seiner ersten Regierungserklärung vor dem Volkskongreß schwört Chinas Premierminister Zhu Rongji jeglicher ideologischen Linie ab und geißelt politische Fehlentwicklungen  ■ Aus Peking Georg Blume

Wenn einmal im Jahr in Peking der Nationale Volkskongreß tagt, wehen auf dem Tiananmen-Platz die roten Fahnen im Frühlingswind, und vor der Großen Halle des Volkes warten die Busse der knapp dreitausend Volksvertreter im Sonnenschein. „Seit 16 Jahren haben wir zu jedem Volkskongreß schönes Frühlingswetter“, erklärt ein Mitglied des laut Verfassung höchstenchinesischenStaatsorgans. Doch die Wetterbeständigkeit täuscht. Drinnen in der Großen Halle des Volkes findet an diesem Tag ein Klimawechsel statt.

Auf der Rednertribüne neben den Chrysanthemen stand gestern ein einziger Redner: Zhu Rongji, der im vergangenen Jahr vom Volkskongreß gewählte Premierminister, legte seinen ersten Rechenschaftsbericht ab. Dabei ging es nicht ums Procedere: Die Volksvertreter sind ein vergleichsweise machtloser Haufen, der Zhu nichts voschreiben kann. Doch es ging um neue Worte für eine brisante politische Lage. Seit Zhus Machtantritt im vergangenen Jahr setzt Peking mit der forcierten Privatisierung der meisten Staatsbetriebe aktiv auf Marktwirtschaft – und zwar unter den Bedingungen einer von Japan und Südostasien nach China übergreifenden Wirtschaftskrise. Die Folge: ene rasant zunehmende Arbeitslosigkeit und unsichere Konjunkturaussichten.

Zhu Rongji zögert nicht, davon zu reden. „Die weitreichende und tiefgehende Wirkung der asiatischen Finanzkrise sowie ihre Auswirkungen auf China waren viel schlimmer als erwartet“, sagt er im siebten Satz seiner 39seitigen Regierungserklärung. Zum ersten Mal beginnt in China die programmatische Rede eines Premierministers mit dem Eingeständnis einer ökonomischen Fehleinschätzung. Und das bleibt das Thema seiner erstaunlichen Rede: Nicht die Erfolge, sondern die Fehler und Unzulänglichkeiten von Partei und Regierung betont ein gestenlos auftretender Zhu vor einem ruhigen, Applaus meidenen Parlamentspublikum. Nur einmal springen die Volksvertreter auf: „Regierungsmitglieder müssen den Massen dienen und es strikt vermeiden, leere Phrasen zu dreschen!“ gelobt der Premier – und es wirkt eben nicht wie eine leere Phrase. Dahinter steht das Versprechen vom Ende des Parteichinesisch am wichtigsten Rednerpult der Nation. Zhu ist gestern der erste, der es an diesem Ort einhält.

Genau vor einem Jahr stand an seiner Stelle der heutige Vorsitzende des Volkskongresses, Li Peng. Als wichtigste Erfahrung seiner zehnjährigen Tätigkeit als Regierungschef faßte Li damals zusammen: „An der ideologischen Linie festhalten, das Denken zu befreien und die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen.“ Davon will Zhu nichts mehr wissen. Eine ideologische Linie wird bei ihm weder erwähnt noch vorgetäuscht. Er erhebt gar nicht den Anspruch darauf. Viel wichtiger ist ihm, „dem Zustand, daß es zu viele Dokumente, Sitzungen und umständliche Formalitäten gibt, ein Ende zu setzen“.

Mit solchen Sätzen nähert sich die Politik der Wirklichkeit. Bisher hatte allenfalls der vor zwei Jahren verstorbene Deng Xiaoping solche Redefreiheit besessen. Jetzt nimmt sie sich Zhu auch fürs Ganze: „Die Wirtschaftsordnung ist noch recht chaotisch“, beschreibt er die Lage, die jeder kennt, der einmal in China Auto gefahren ist. „Die langjährige Wiederholung gleichgearteter Bauprojekte hat dazu geführt, daß die meisten Industriebranchen einen Überschuß an Produktionskapazität haben.“ Auch den Bauern, die gegen illegale Steuererhebungen demonstrieren, will Zhu näherkommen: „Die dringenste Aufgabe der Gegenwart ist, den ungesunden Tendenzen wie gesetzwidriger Gebührenerhebung und willkürlicher Verhängung von Geldstrafen einen Riegel vorzuschieben.“

So viel der kritischen Lagebeschreibung. Doch was tut die Regierung dagegen? Es gibt Momente, da klingt Zhu wie Oskar Lafontaine: „Um in diesem Jahr ein Wachstum der Wirtschaft zu verwirklichen, muß man sich vor allem auf die Steigerung der Inlandsnachfrage stützen. Man muß das Einkommen insbesondere der einkommensschwachen Massen erhöhen.“ Mit dieser keynesianischen Begründung rechtfertigt Zhu einen 56prozentigen Anstieg des Staatsdefizits für 1999, das jedoch bei zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts im internationalen Vergleich immer noch bescheiden ausfällt.

Hier liegen die Stärken des Regierungschefs: Er selbst hat als Vizepremier und Zentralbankchef seit 1993 für Ordnung in der öffentlichen Finanzpolitik gesorgt. Das läßt ihm heute Spielraum zum Regieren in der Krise. Doch man muß Zhu beim Wort nehmen, um die kaum zu bewältigenden Aufgaben vor ihm zu ermessen: Fünfmal hintereinander in drei Sätzen spricht er von Korruption, so oft, wie andere auf dieser Kanzel früher vom Sozialismus redeten. Er fordert dazu auf, das „Niveau zu erhöhen, auf dem Regierungen aller Ebenen im Rahmen der Gesetze regieren“.

Mit anderen Worten: Zhus Problem ist, daß sich die Regierung, der er vorsteht, nicht an die Gesetze hält. Aber so ist das eben in einer Diktatur. Zhu ist sich dessen bewußt und rechtfertigt sein Regime immer wieder mit der Notwendigkeit der Stabilität. Mit einer entscheidenen Einschränkung: Trotz der Krise dürfe man keinesfalls „diktatorische Mittel gegen die Massen einsetzen“. Auch das ist eine Art, sich von der Ära Li Pengs zu verabschieden. Siehe auch Reportage Seite 13

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