: Die Kavallerie des Geistes
Der Intellektuelle als graue Eminenz des Realen: Hans Magnus Enzensberger und der militärische Arm der deutschen Intelligenz. Über die Umcodierung einer ganzen Generation und den Graben zwischen restloser Zustimmung und Totalnegation ■ Von Walter van Rossum
„Ich war ja nie Pazifist, weil ich meine Existenz den Siegern des Zweiten Weltkrieges verdanke“, bekennt Hans Magnus Enzensberger im neuesten Spiegel. Die heitere Logik des Todes kommt reichlich spät. War wohl ein langer Weg, bis er endlich die wahre Konsequenz aus der deutschen Vergangenheit ziehen konnte: schnelle militärische Schläge. Oder auf altdeutsch: Blitzkriege. Es war ein weiter Weg, der ihn schließlich bis in die intellektuellen Abgründe des deutschen Bundestages geführt hat. Dort immerhin hatte man dergleichen schon zu Zeiten erkannt, als Enzensberger noch den Humanismus der „Militärschläge“ schneidig Massenmord nannte.
Er war ein Vorreiter und dabei ist es geblieben. Der Spiegel würdigt das durch einen hübschen Rahmen um seine Stellungnahme – Herzstück der Kollekte des Geistes, die das Magazin zum Krieg veranstalte hat: acht Köpfe auf zweite Seiten – fast zum Anklicken schön. Allerdings hätte es auch eine Drucksache aus dem sogenannten Verteidigungsministerium getan. Mürrisch moralisiert die Intelligenz aus der Tiefe ihres Gewissens und spielt ethische Luftkämpfe.
Vor acht Jahren mußte Enzensberger noch schweren deutschen Tiefsinn in den Golfkrieg bomben. Die Wunderformel „Saddam = Hitler“ besagte ungefähr, daß die Alliierten eigentlich die deutsche Vergangenheit am Golf bewältigten. Deutsch war an Saddam vor allem sein Waffenarsenal. Schließlich gab es Zeiten, da hielt die Nato den unbedeutenden Diktator für würdig genug, die Sache der westlichen Wertegemeinschaft gegen Chomeini auszufechten. Ein Jahrzehnt lang durfte er morden und brennen, was das Zeug hielt. Er bekam es. Und als er zuviel wollte, mußten auf einmal Kuwait, Israel und was die freie Welt sonst noch moralisch aufzufahren weiß, gerettet werden.
Das politische Kursbuch der Gegenwart
Enzensberger hatte suggeriert, Golfkrieg II sei eine moralische Angelegenheit. Und das politische Kursbuch unserer Tage schrieben Künstlerintellektuelle seines Schlages, die auch keineswegs den radikalen Vollzug scheuten. Damit knüpfte Enzensberger an die Rollen an, die er in den 60er Jahren virtuos gespielt hat: der Intellektuelle als graue Eminenz des Realen. So sieht der Traum eines Voltairianers am Ende des 20. Jahrhunderts aus. Leider ist die Aufklärung dabei auf der Strecke geblieben.
So mußte Enzensberger niemals die Folgen seiner größenwahnsinnigen Kriegsermunterung nachrechnen. Wahrscheinlich sind an die 100.000 Menschen – darunter etliche Zivilisten – im Feuerwerk der Befreiung umgekommen. Nach der internationalen Feuersbrunst nahmen die Diktatoren in Kuwait und Irak in ihren rauchenden Palästen wieder Platz und hielten sich an ungehorsamen Untertanen schadlos. Mehr denn je blieben die Iraker an ihren Diktator gebunden, als im Gefolge hochmoralischer UNO-Sanktionen etwa eine halbe Million Menschen krepierten. Eisig sind Enzensberger & Co. über die furchtbaren Folgen ihres martialischen Humanismus hinweggegangen. Dafür freut sich der militärische Arm der deutschen Intelligenz heute, „wie wenig zivile Opfer es bisher gibt“. Woher weiß er das? Jedenfalls müssen wir uns seine Schmerzgrenze wohl unermeßlich vorstellen.
Nachdem die Sieger dem kleinen Hans Magnus das Leben gerettet haben, sind sie nicht untätig geblieben. Allein die USA haben in weit über 50 militärischen Einsätzen nach dem Zweiten Weltkrieg viele Millionen Menschen getötet. Immerhin: Es gab Überlebende. Eine Demokratie ist nicht dabei, aber ein Netz stabiler Diktaturen oder abhängiger Regimes. Nachweislich fliegt diese Firma grundsätzlich keine humanitären Einsätze – nachweislich schmückt sie sich noch im größten Dreck mit schönsten Parolen. Das läßt sich jedem Frühstücksblatt entnehmen oder auch den gesammelten Aufsätzen von Hans Magnus Enzensberger im „Kursbuch“ der Jahre 1966 – 70. „Heute überläßt (Europa) diese Arbeit, aus Schwäche, nicht aus Einsicht, den Vereinigten Staaten von Amerika“, heißt es beispielsweise in den „Berliner Gemeinplätzen“ von 1968 über die militärische Unterdrückung einer „hungernden, ausgeplünderten und von Bomben zerfetzten Welt“. 25 Jahre später liefert Enzensberger die europäischen Einsichten nach. Er hat die Seiten gewechselt, aber nicht die Rhetorik radikaler Weltverbesserung im Dienste der Menschenrechte.
Die Revolution verliert ihre Revolutionäre
Wie er seinerzeit treffend sah, leben noch heute etwa 5/6 der Menschheit in Hunger, Verelendung, Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Außer Fidel Castro ist mir im Moment kein Diktator bekannt, mit dem wir nicht trotzdem freundlichsten Umgang pflegten. Was insofern nicht verwundert, da wir doch fast die meisten unter Vertrag haben. Deshalb pflegt man auch normalerweise bei irgendwelchen „ethnischen Säuberungen“ nicht einmal den diplomatischen Dienstweg zu bemühen. Als Jelzin den Tschetschenen vor kurzem klarmachte, wie man mit Separatisten umgeht, und das Land jahrelang zusammenschießen ließ, konnte die Gemeinschaft der Menschheitsretter kein Problem erkennen. Als „mein Freund Boris“ umschlang Kohl seinen Miloevic. Und in Ruanda konnten die diensthabenden Schutztruppen des Westens nicht schnell genug abhauen, obwohl einige Regierungen gut über den bevorstehenden Genozid unterrichtet waren.
Nichts Neues im Westen – nur eine ganze Generation von Intellektuellen deutet neu: Seit über 30 Jahren beschallen die Enzensbergers, die Walsers, die Biermanns, Cohn-Bendits den öffentlichen Raum. Ihre Kontinuität täuscht über den völligen Austausch der Positionen hinweg. Gemeinsam hatten sie Imperialismus, Kapitalismus, den Vätern und den eindimensionalen Menschen den Kampf angesagt. Die Revolution wurde nicht abgesagt, aber die Revolutionäre waren abhanden gekommen. Als sie in alter Lautstärke wieder auftauchten, feierten sie allerdings die Wohltaten der freiheitlich demokratischen Zivilisation. Leider hat keiner der ehemals revolutionären Heerführer das Geheimnis seiner unheimlichen Läuterung preisgegeben. Entfernt schienen sie ihren Vätern zu ähneln, mit denen sie die Erfahrungen eine unheimlichen Vergangenheitsbewältigung teilten.
Klaus Theweleit hat in seinem Buch „Ghosts“ die traumatisierte Seelenwanderung der Linken von 68 bis zum „deutschen Herbst“ erkundet. Jener Generation, die im Namen der Lebenslust und allfälliger Modernisierung ein paar Vorschläge zur Weltverbesserung unterbreitet hatte, gab man umgehend mit Knüppeln zu verstehen, daß liberté, fraternité keine Geschäftsgrundlage seien – Vietnam, Springer und Nazikanzler hingegen ganz unvermeidlich. Unfaßbar rasch verwandelten sich die offenen Strategien des Protests in das eisige Unternehmen des revolutionären Kampfes. K-Gruppen verstanden sich bereits Anfang der 70er Jahre als groteske Avantgarde entmenschter Geschichtsgesetze, und die sogenannte Stadtguerilla erklärte dem Rest der Welt einen aberwitzigen Krieg.
Als einer der ersten hatte Enzensberger die lustvollen Attakken gegen die alte Welt in eine abstrakte und totalitäre Gegnerschaft gepreßt: „Diese Tatsachen zeigen, daß das politische System der Bundesrepublik nicht mehr reparabel ist. Man muß ihm zustimmen oder man muß es durch ein neues System ersetzen. Eine dritte Möglichkeit ist nicht abzusehen“ („Berliner Gemeinplätze“). Und er hatte keinen Zweifel gelassen, auf welcher Seite er sich sah. Konsequent blieb er beim Ausschluß des Dritten: Deshalb steht er heute ebenso trostlos dogmatisch auf Seiten der restlosen Zustimmung. Und zwischen diesen beiden Polen brütet Schweigen. Das eisige Schweigen einer ganzen Generation, die sich in den dunklen Manövern ihrer heimlichen Umcodierung erschöpft.
Mit der Eskalation des deutschen Herbstes hatte die revolutionäre Option ihr Scheitern gesucht und gefunden. Danach steuerten die sogenannten neuen sozialen Bewegungen einen Kurs jenseits von Sozialdemokratie und revolutionärer Militanz. Gesellschaftskritik wurde durch Gemütsbulletins geerdet. Verzweifelt wurde der sich globalisierenden abstrakteren Weltgesellschaft das Lokale und Menschliche entgegengesetzt. „Wutundtrauer“ bannten die analytischen Abstraktionen der alten Gesellschaftskritik. Die Realität geriet außer Reichweite einer kritischen Sprache. Da ist sie geblieben. Geschützt vom neuen „Realismus“ – eine Art mobiler Rhetorikschlag gegen jede prinzipielle kritische Anfechtung des Stands der Dinge. Der Realist konnte so wenig das humanitäre Desaster nach dem Golfkrieg sehen, wie er die bereits jetzt offenkundige politische und menschliche Katastrophe im Kosovo wahrnehmen kann. Verzweifelt eingesperrt in das alteuropäische Dilemmakonstrukt von nahtloser Zustimmung oder revolutionärer Totalnegation sperren sich Intellektuelle gegen das unerträgliche Evidente.
Das Geheimnis der Kontinuität
Noch vor seiner Vereidigung zum Außenminister demonstrierte Joschka Fischer im Gefolge seines Chefs in Washington seine Eignung. Er versicherte den ob seiner Person verunsicherten Amerikanern seine Blankogefolgschaft bei militärischen Einsätzen der Nato – notfalls auch ohne UNO, also evident völkerrechtswidrig. Damals ging es allerdings noch um Bagdad, die dritte Runde. Zu Hause saß sein Freund Dany Cohn-Bendit vor dem Fernseher und heulte vor Rührung. Als ob sein alter Freund, der freischwebende Barrikadenkämpfer Joschka, dem amerikanischen Präsidenten formvollendet, doch entschieden „Nein, leider niemals“ gesagt hätte. Was wäre das für ein Sieg gewesen! Aber was Dany zu Tränen rührte, war auch ein stummer Sieg, um den er lange gerungen hatte: die endlich vollendete Ankunft der Gegenwart und die endgültige Liquidierung der Gesellschaftskritik – die tiefgefühlte Umarmung der Macht, die Gegenwart, die sie wie verlorene Söhne empfängt. Und ich bin sicher, niemals hatte und hat Fischer das Gefühl von Verrat. Konsequent blieb ein Drittes ausgeschlossen. Das absurde Geheimnis der Kontinuität. Wie auch Enzensberger sogar in der neuen Berliner Republik immer noch auf „Berliner Gemeinplätzen“ steppt: „Statt Bodentruppen einzusetzen, sollte man die Kosovaren bewaffnen. Die verstehen sich besser auf Partisanenkrieg.“ So ist er, der real existierende Humanismus. Früher klang das so: „In Wirklichkeit leben wir in einem permanenten Kriegszustand. Die Rückwirkungen auf unsere politischen Zustände werden von Jahr zu Jahr sichtbarer werden. Die gewaltsame Konterrevolution (in den armen) wird auf die reichen Länder zurückschlagen. Wer mit Hungerkatastrophen dort und einem ruhigen Leben hier, mit Genozid in der Ferne und liberaler Toleranz zu Hause, mit blinder Gewalt nach außen und demokratischen Verhältnissen im Inneren seine Rechnung macht, der ist ein Esel.“
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