: Zwischen Mark und Metropole
Wie in vielen Städten rund um Berlin wehren sich die östlichen Altbewohner des Nobelvororts Kleinmachnow gegen die „Vertreibung“ durch westliche Neusiedler ■ Von Philipp Gessler
Archie fühlt sich wohl hier, offensichtlich. Der Rauhaardackel wackelt ganz selbstverständlich durch das Büro seines Herrchens Wolfgang Blasig, der mit seiner runden kleinen Brille, dem dichten braunen Vollbart und der Pfeife, gefüllt mit süßlichem Tabak, gut als Oberförster durchgehen könnte. Doch die Gemütlichkeit täuscht: Blasig, das wird schnell klar, ist ein cleverer Politiker. Das muß er sein, denn er hat einen harten Job: Er ist Bürgermeister von Kleinmachnow.
Der idyllische Ort, direkt am südwestlichen Stadtrand von Berlin in einem Waldgebiet gelegen, ist ein Paradebeispiel für den Umbruch, den viele Gemeinden im Speckgürtel Berlins seit dem Mauerfall durchmachen (s. Kasten). Etwa die Hälfte der 24.700 Einwohner der Gemeinde lebt erst seit 1989 hier: „Der Ort ist ständig auf der Suche nach Identität und Ruhe“, sagt Blasig.
Das Hauptproblem: Noch immer wissen knapp 20 Prozent der Kleinmachnower Hausbesitzer nicht sicher, ob sie in ihrem Heim überhaupt wohnen dürfen oder schon morgen raus müssen. Das liegt an der größten Hypothek, mit der der Einigungsvertrag seit 1990 die Vereinigung der beiden deutschen Staaten belastet, der Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“. Fast alle Grundstücke und Immobilien im Osten mußten an ihre Alteigentümer (im Westen) zurückgegeben werden – nur in Ausnahmen konnten die Ossis bleiben, wenn die Wessis dafür entschädigt wurden.
In Kleinmachnow bestanden Anfang der 90er Jahre nach Blasigs Angaben auf etwa 60 Prozent aller bebauten Grundstücke solche „Restitutionsansprüche“. Manche Gemeinde im Berliner Umland hatte gar Restititutionsquoten von bis zu 80 Prozent – sozialer Sprengstoff par excellence.
Und in Kleinmachnow war vielleicht alles eine Spur härter. Denn bis in die 30er Jahre hinein galt die Gemeinde als ein wichtiges Refugium der Berliner Reichen, Berühmten und Einflußreichen, ein stadtnahes Paradies im Grünen mit Bewohnern wie Arnold Schönberg und Kurt Weill. Nach dem Krieg zogen viele SED-Oberen in die schicken Villen – zusammen mit einigen Intellektuellen wie Christa Wolf und Walter Janka. Dieser „nicht übliche Bevölkerungsschnitt“ mit einer meist „eloquenten Bürgerschaft'' führte Blasig zufolge dazu, daß der Ost-West-Konflikt hier „stark kultiviert“ wurde: ein „überschaubares Schlachtfeld“, wie der Bürgermeister sagt, von elf Quadratkilometern Fläche.
Ein erfahrener Kämpfer auf diesem Schlachtfeld ist Hubert Faensen, Vizevorsitzender der Bürgerinitiative BIK: „Bürger für gute Lebensqualität in Kleinmachnow“. Das Ziel des erstmals 1995 in die Öffentlichkeit getretenen Vereins faßt Blasig mit polemischem Unterton so zusammen: „Mein Bauvorhaben sollte schon das letzte sein“ und „bitte, nicht soviel Nachbarschaft“. Der Verein hat etwa 50 Mitglieder, „gut gemischt“, wie Faensen sagt, aus alten Kleinmachnowern und nach der Wende aus dem Westen hinzugezogenen Neubürgern. Unter einem Heiligenbild unterstreicht der frühere Ost-Professor der Kunstgeschichte in seinem kleinen Häuschen, daß es der BIK keinesfalls darum gehe, das eigene kleine Paradies gegen Wessis abzuschotten. Nein, das Ziel des Vereins sei es, die „Zersiedlung und bauliche Verdichtung“ des Ortes zu verhindern, um, „den Charme unseres Ortes als Garten- und Waldsiedlung“ zu erhalten.
Es gibt einen Begriff für solche Bürgerinitiativen: „Nimby-Gruppen“ („Not in my backyard“) heißen sie unter Soziologen.
Die „eigentliche Antipathie“ mancher Kleinmachnower, so betont Faensen mit Blick auf zwei Garagen, richte sich nicht gegen Wessis an sich, sondern gegen westliche Investoren, die mit ihren Mehrfamilienhäusern das Gesicht der Gemeinde zerstörten, die „bloß Gewinn machen, aber gar nicht hier leben wollen“. Nach Schätzungen Märkischer Makler sind 95 Prozent aller Wohnungen im Speckgürtel von Kapitalanlegern aus dem Westen finanziert worden – wegen Quadratmeterpreisen von 6.000 Mark stünden aber etwa ein Viertel der Wohnungen mit gehobenem Niveau leer.
Faensen fordert die Festlegung von Mindestgrößen für zu bebauende Grundstücke. Die BIK ist im Ortsparlament mit den Grünen verbunden. Der SPD-Bürgermeister regiert oft auch mit Hilfe der PDS und einer anderen Gruppierung, die mit den Sozialisten zusammenarbeitet: der Bürgerinitiative „Bürger gegen Vertreibung“. Sie bildete sich Anfang der 90er bei der ersten Flut von Restitutionsansprüchen – hat aber mittlerweile an Einfluß verloren. Zu einem großen Teil ruhiggestellt werden konnte sie durch den Bau des Ortsteils „Stolper Weg“, einer Neubausiedlung für 2.000 Menschen bei der Autobahn, gedacht vor allem für Kleinmachnower, die aus ihren Häusern gedrängt wurden oder sich den immer teureren Wohnraum im alten Ortskern nicht mehr leisten können. „Das Leben in Kleinmachnow ist schlichtweg teuer“, sagt Blasig.
Zu den Familien, die noch nicht in den Stolper Weg ziehen mußten, gehören die Walters. Seit 15 Jahren bewohnen sie ein kleines Einfamilienhaus. Ein Flügel dominiert das Wohnzimmer, in dem das Chaos eines sanft alternativ geprägten Haushalts mit drei heranwachsenden Kindern herrscht. Seit zehn Jahren, das wissen die Walters, wohnen sie auf einem Grundstück, das ihnen nicht gehört, dessen früherer Besitzer aber offenbar noch keine Rückgabeansprüche gestellt hat. Petra Walter, 45 Jahre alt und ausgerechnet Mitarbeiterin einer „Häuslebauer-Zeitung“, hat allerdings aufgehört, sich deshalb Sorgen zu machen – im Gegensatz zu den frühen 90er Jahren: Da hätte sie am liebsten „den Hund auf Leute gehetzt, die langsam durch die Straße fuhren“. Da wohne von den Ex-Bewohnern nur noch einer – als Hausmeister in seinem früheren Haus.
„Das ist kein Kiez mehr“, sagt sie, „die Bevölkerung wird sich austauschen.“ Die Investoren aus dem Westen „knallen den Ort hier zu“. Sie benutzten das Bedürfnis der aus ihren Häusern verdrängten „kleinen Leuten“ nach billigem Wohnraum, „um ihre kapitalistische Politik damit zu machen – das kotzt mich an“. Noch nach Jahren seien vertriebene Familien „traumatisiert“: „Die Leute fühlen sich bis ins Mark ungerecht behandelt.“
Das Rentnerehepaar G. wohnt in einer postmodern angehauchten Zweifamilienhaushälfte der eng bebauten Neubausiedlung „Stolper Weg“. Ihr Hund ist im ersten Stock eingesperrt und kratzt ständig gegen die Türe, eine weiße Katze räkelt sich auf einem Kratzbaum, es riecht streng. Nach 37 Jahren wurden sie aus ihrem Haus auf einem 1.000-Quadratmeter-Grundstück mitten im Wald nahe einem Weiher gedrängt. Der Wessi, der das Haus von den Alteigentümern gekauft hatte, habe sie durch „Psychoterror“, so erzählen sie, rausgeekelt. Sie hätten die letzten zwei Jahre „nur noch auf einer Baustelle“ gelebt, da der neue Eigentümer über ihnen denFußboden ausgerissen habe. Ihr Mann, so erzählt die verhärmte Frau, habe Depressionen bekommen, sie selbst weint dauernd, wenn sie davon redet. „Das ganze war so entwürdigend“, sagt die Rentnerin. In ihre frühere Straße „kann ich nicht mehr gehen“ – das Bild, das die Enkelin vom alten Haus malte, wollte sie nicht sehen.
In ihrem früheren Haus ist jetzt Herr W. mit seiner Familie daheim. Ein kleines Baby robbt sich über die beheizten Steinplatten des Wohnzimmers in Richtung des Krokodils und des Flamencos, beide lebensgroß und offenbar aus Eisen, die vor der Glasfront zum Garten Wache schieben. Jetzt im Feierabend ist der Westberliner Hotelier und Autohändler mit der goldenen Brille im Trainingsanzug gekleidet. Er habe sich gegenüber dem Ehepaar stets korrekt verhalten, betont er, aber schnell festgestellt: „Mit denen kann man gar nicht zusammenleben, da wohne ich lieber im Zelt.“
Die seien eben zu DDR-Zeiten „jemand gewesen“: Der Mann, Dozent auf einer SED-Parteischule, sei jeden Morgen mit einem Lada abgeholt worden. Die Frau sei „die einzige, die ich kenne, die auf Kommando weinen kann“ – und gestunken habe es in ihrer Wohnung, „das habe ich noch nicht erlebt“. Mit der Wende seien die beiden nicht fertig geworden. Er habe immer wieder versucht, ihnen entgegenzukommen. Alles sei beim Umbau des Hauses seinen „gesetzlichen Weg“ gegangen, und daß eine Baumaßnahme „eingreift ins Leben“, das sei doch klar. Nach zwei Jahren Auseinandersetzung habe er aber am Ende „gar kein Verständnis mehr für die gehabt, sag' ich mal so locker“.
Es ist Abend geworden. Wunderbar ruhig ist es. Keine Frage: Diese Neu-Kleinmachnower fühlen sich wohl hier; selbst die Marmorlöwen vor der Eingangstür scheinen zufrieden ihre Mäuler zu fletschen. Wie zum Abschied haben sie eine Tatze erhoben.
Der Westberliner Autohändler hat schnell festgestellt: „Mit den alten Bewohnern kann man gar nicht zusammenleben, da wohne ich lieber im Zelt.“
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