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Botschafter wider Willen

Mit der Ausstellung „Exil“ auf dem Bayerischen Platz dokumentiert das Kunstamt Schöneberg die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung  ■ Von Katrin Bettina Müller

Henry Waters in Los Angeles schlägt jeden Montagmorgen in seiner Zeitung zuerst die Ergebnisse der Bundesliga nach; da komme wohl die „Liebe zur Vergangenheit“ durch, als er noch Heinz Wasserzug hieß und in Berlin in der Bamberger Straße wohnte, schrieb er den Schöneberger Historikern, die ihn und über fünfzig weitere Überlebende der Vertreibung der Juden aus dem Bayerischen Viertel aufgespürt und befragt haben. Henny Herschberg, die seit 1949 mit ihrem Mann in Israel lebt, erlebt ihre Verbundenheit mit der deutschen Sprache auf andere Weise: „Kreuzworträtsel kann ich nur in Deutsch.“ Und Gerry P. Waldston, heute Toronto, hat ein Stück Heimat in den Treffen mit seinen Briefmarkenfreunden in Baden-Baden wiedergefunden.

Sie alle stammen aus dem Bayerischen Viertel, und ihre Briefe nach Berlin sind nachzulesen an einem sechzig Meter langen Tisch, der quer über die Wiese am Bayerischen Platz läuft. Für 25 der 73 Biographien, die den Weg der von den Nationalsozialisten ins Exil Gezwungenen dokumentieren, konnten die Historiker auf Sekundärliteratur zurückgreifen, weil viele Bewohner des Bayerischen Viertels zur Berliner Prominenz gehörten, wie Erwin Piscator, Wilhelm Reich, Erich Fromm oder Albert Einstein. Doch darüber hinaus hat das Kunstamt Schöneberg seit 1983 nach weiteren Zeitzeugen gesucht. 1995 wurden im Haus am Kleistpark in langen Interviews und Lesebüchern die Erinnerungen der in Schöneberg aufgewachsenen Juden vorgestellt. Fast immer waren sie von Integration und selbstverständlichem Zusammenleben geprägt.

In einem Gedenkbuch wurden die Namen und Adressen der 6.069 Juden festgehalten, die aus Schöneberg und Friedenau deportiert und ermordet worden waren. Die Geschichtsstunde auf dem Bayerischen Platz widmet sich jetzt noch einmal den wenigen Überlebenden und ihren Problemen im Exil. „Der Anfang ist sauschwer, und Geld ist Macht, und daher muß man schuften, bis man nicht mehr auf andere angewiesen ist“, beschreibt Waldston, der Werbefachmann wurde, den Kampf um Anerkennung. Er hat sich die Familiengeschichte der Waldsteins zur Aufgabe gemacht und deren Spuren bis in Wallensteins Lager zurückverfolgt. Die Erfahrung, wie Fremdheit entsteht, zieht sich durch alle seine Beobachtungen.

Die Briefe der Exilanten an das Kunstamt zeugen von einem großen Vertrauen, in das man als Leser im Park plötzlich einbezogen ist. Manchmal schimmert ein Alleinbleiben mit den Erinnerungen auf – „Weder mein Mann noch meine Tochter haben jemals nach meiner Zeit unter den Nazis gefragt; im Gegenteil, meine Tochter untersagte ihren beiden Söhnen, das Thema zu erwähnen“ –, und man ahnt, daß die Vergangenheit noch längst nicht vorbei, geschweige bewältigt ist.

Am Rande des Platzes informieren Ländertafeln über die Bedingungen des Exils und den Umgang mit den meist mittellosen Flüchtlingen. In der Schweiz etwa drängte 1938 der Chef der Polizei auf Unterscheidung von Geschäftsreisenden, Touristen und jüdischen Flüchtlingen und erreichte damit die Kennzeichnung der Pässe von Deutschen jüdischer Herkunft mit einem J.

Am längsten ist die Liste der Exilanten, die in England Aufnahme fanden. Fünf von ihnen entkamen mit den Kindertransporten, die die britische Regierung im November 1938 beschlossen hatte und die 10.000 jüdischen Kindern das Leben rettete. Zu ihnen gehörte Hellmut Kallmann, Musikhistoriker aus Kanada, der zur Ausstellungseröffnung nach Berlin gekommen war. Die Emigranten, sagte er in seiner Rede, waren die besten Kulturbotschafter Deutschlands und brachten die deutsche Kultur in alle Welt – gegen den Willen den Nazis.

Während in der Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas viel von Dokumentation und Zeitzeugenbefragung die Rede ist, findet sie im Kunstamt Schöneberg dank des Engagements der Kunstamtsleiterin Katharina Kaiser und des Vereins Aktives Museum längst statt.

Fünfzig Geschichten zu recherchieren und festzuhalten ist allemal produktiver als Millionen erfassen zu wollen, aber keinen Anfang zu finden.

Bayerischer Platz, tägl. 11 bis 17 Uhr, bis 18. Juli

„Weder mein Mann noch meine Tochter haben je nachgefragt; meine Tochter untersagte ihren Söhnen, das Thema zu erwähnen“

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