piwik no script img

Belgisches Hühnerklein

Als Vertuschen nichts mehr half, trat Belgiens Ministerpräsident Dehaene die Flucht nach vorn an: Kurz vor den Wahlen entwickelte sich der Dioxinskandal nicht nur zu einer Gefahr für die Gesundheit, sondern auch für seine Koalition  ■ Aus Brüssel Antoon Wouters

Die Affäre um die verschwundenen und ermordeten Kinder. Die unglaublichen Umstände der Flucht des „Kinderschänders“ Marc Dutroux. Der Augusta-Skandal, der den ehemaligen Nato-Generalsekretär Willy Claes seinen Job kostete. Der nie aufgeklärte Mord an dem Spitzenpolitiker André Cools in Lüttich, dem Palermo an der Maas. Die nach wie vor ungeklärten Umstände der Ermordung des Veterinärs, Lebensmittelprüfers und Hormonfahnders Karel van Noppen. Und jetzt die dioxinverseuchten Futtermittel – ein Skandal, den Belgiens Landwirtschafts- und Gesundheitsminister vertuschen wollten. Das, liebe Miteuropäer, ist Belgien.

Die eifrigen Versuche des christdemokratischen Ministerpräsidenten Jean-Luc Dehaene, den Skandal in den Griff zu bekommen, standen von Anfang an im Schatten der nahenden Parlamentswahl. Denn am Sonntag wird in Belgien nicht nur für das Europaparlament, sondern so ziemlich alles neu gewählt: nationales Abgeordnetenhaus, neuer Senat und neue Regionalparlamente. Kein Wunder also, daß sich Dehaene, der einer christdemokratisch-sozialistischen Koalition aus vier Parteien vorsitzt, gestern bemühte, einen Schlußstrich zu ziehen: „Ich bin überzeugt, daß sich kein Dioxin mehr in den Lebensmitteln findet.“ Derweil ließ sich seine Frau beim Zubereiten eines Huhns von der Presse ablichten. Trotzdem werden Dehaenes Partei Verluste prognostiziert, die ihn den Anspruch auf die kommende Regierungsbildung kosten könnten.

Seinen Anfang nahm der Dioxin-Skandal in der zweiten Januarhälfte. Bereits im März erfuhr das Landwirtschaftsministerium von der Lieferung verseuchten Viehfutters an Hühnerzüchter sowie Schweine- und Rindermäster. Etwa 80.000 Kilo verseuchtes Fett hatte die Firma Verkest aus Deinze bei Gent den Futtermittelherstellern geliefert. Über 2.000 Betriebe erhielten daraufhin verseuchtes Viehfutter.

Besonders in der Hühnerzucht waren die Folgen katastrophal: Tiere erkrankten, legten keine Eier mehr oder starben. Ende April erklärte ein Lebensmittelprüfer dem christdemokratischen Landwirtschaftsminister Karel Pinxten und dem sozialistischen Gesundheitsminister Marcel Colla, daß es sich vermutlich um Dioxin handelte. Er bat die beiden Minister, die Sache nicht bekanntzumachen. Aus gutem Grund. Der Mann arbeitet nicht nur für die Regierung, sondern nebenher auch als Gutachter für die Versicherung eines der betroffenen Hühnerzüchter.

Unternehmerische Belange waren im Spiel, was zählt da schon die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung. Pinxten und Colla hielten die Sache geheim, nicht nur vor ihren Kollegen im belgischen Kabinett, sondern auch vor der EU-Kommission. Die Niederlande und Frankreich, die verseuchte Futtermitel aus Belgien importiert hatten, wurden Anfang Mai benachrichtigt. Aber auch dort hielten die Verantwortlichen dicht.

Hinter den Kulissen betrieben Pinxten und Colla Schadensbegrenzung und versuchten im Interesse der Branche, die Sache unter Kontrolle zu bekommen. Doch die Politiker unterschätzten die Tragweite der Krise. Colla etwa ging davon aus, daß verseuchte Nahrungsmittel „ohnehin bereits verzehrt“ seien.

Am 26. Mai bekamen Pinxten und Colla durch Labortests den unumstößlichen Beweis geliefert, daß das Futter zweifelsfrei dioxinhaltig war, und zwar 1.500mal über dem zulässigen Grenzwert. Einen Tag später wurde die Sache ruchbar. Zwei Wochen vor den Wahlen schlug die Nachricht ein wie eine Bombe.

Anfänglich nahm Dehaene seine Minister in Schutz: Beide hätten alles Notwendige getan. Doch da hatte der Premier die Rechnung ohne den liberalen Oppositionsführer Guy Verhofstadt gemacht. Pinxten und Colla hatten ihrem Chef verschwiegen, daß ein Lebensmittelprüfer sie bereits Ende April in einem Fax gewarnt hatte, daß Dioxin in Futtermittel festgestellt worden sei. Verhofstadt hatte dieses Fax und setzte den Premier „diskret“ in Kenntnis – ohne jedoch auf gezielte Indiskretionen gegenüber der Presse zu verzichten.

Fünf Tage nach Bekanntwerden des Dioxin-Skandals mußten Pinxten und Colla ihre Kabinettssessel räumen. Der Christdemokrat und Vizepremier Herman Van Rompuy übernahm das Agrarministerium, sein Kollege von der sozialistischen Fraktion Luc Van den Bossche das Gesundheitsministerium. Ihre Aufgabe war es, die Affäre unter Kontrolle zu bringen und die EU zu besänftigen.

Man wußte seit der Erfahrung Großbritanniens mit BSE, daß man auf die Nachsicht der anderen Mitgliedstaaten nicht zu hoffen braucht. Die EU-Kommission ließ alle halbwegs verdächtigen Produkte ausnahmslos vom Markt nehmen, selbst Milch und Milchprodukte. Belgien indes weigerte sich, den Verkauf von Milch zu verbieten. Eine Kommission aus Dioxin-Experten hatte der Regierung versichert, Milch sei unbedenklich. Die Milch eines Unternehmens würde ihrer Argumentation nach schließlich mit der anderer Betriebe vermischt.

Dennoch mußte sich der burgundische Belgier weitgehend mit vegetarischer Cuisine zufriedengeben. Notgedrungen. Die Regierung verfügte ein absolutes Schlachtverbot für Hühner, Schweine und Rinder. Tag für Tag wurden weitere Produkte aus den Regalen genommen: Erst Huhn und Eier, dann eihaltige Produkte, wie Nudel und Mayonnaise, schließlich alle fetthaltigen Fleischwaren wie Speck und Pastete. Vergangenes Wochenende kamen außerdem Sahne, Käse und Butter auf die Verbotsliste, um Stunden später wieder für unbedenklich erklärt zu werden. Am Montag wurde Butter dann doch aus den Regalen genommen.

Alle Welt stoppte die Einfuhr belgischer Nahrungsmittel. Viele Nahrungsmittelhersteller und Vertreiberfirmen bereiten seither Schadensersatzforderungen vor, deren Umfang im Augenblick noch nicht abzuschätzen ist. Analisten schätzen die Einbußen für das Bruttoinlandsprodukt schon jetzt auf 0,25 bis 0,40 Prozentpunkte, das entspricht etwa bis zu 50 Milliarden belgische Franc (2,4 Milliarden Mark).

Als der neue sozialisistische Gesundheitsminister Van den Bossche im Vorfeld der Parlamentswahlen vom Sonntag seinen christdemokratischen Kabinettskollegen in Fernsehauftritten düpierte, kehrte Premier Dehaene am 4. Juni unvermittelt und nur widerwillig vorzeitig vom EU-Gipfel in Köln zurück und erklärte die Affäre zur Chefsache. Aber das Agrarministerium, das mit Getreuen aus den Bauernverbänden durchsetzt war, verweigerte die Zusammenarbeit. In der Nacht zum 8. Juni schob Dehaene die komplette Verwaltung des Landwirtschaftsministeriums beiseite. Anschließend schickte er in einer Blitzoffensive nächtens die Polizei in die Spur, die die Kundenlisten verdächtiger Betriebe beschlagnahmen sollte: Das Ergebnis war verblüffend. Die Liste von neun dioxinverseuchten Futtermittelbetrieben wuchs auf 32 an, diejenige verdächtiger Hühnerzüchtereien auf 810. Insgesamt erbrachte die späte Kontrolle 365 Firmen mehr, als das Landwirtschaftsministerium bis dahin dingfest gemacht hatte.

Am vergangenen Mittwoch kamen noch mal 760 Legebatterien hinzu. Sie wurden von einem großen Futtermittelhersteller „spontan“ gemeldet – aus Angst vor den rigiden Sanktionen, mit denen die Regierung inzwischen jedem drohte, der Verseuchungen verschweigt. Hersteller mußten eine Ehrenerklärung abgeben, wonach sie in dem Zeitraum zwischen dem 15. Januar und dem 1. Juni 1999 kein Fett bei der Firma Verkest gekauft haben. Alle Futtermittelbetriebe müssen demnächst damit rechnen, auf den Wahrheitsgehalt ihrer Erklärung überprüft zu werden. Diese Aktion erlaubte es der Regierung, etwa die Hälfte der Hühnerzüchtereien anschließend für unbedenklich zu erklären. Sie durften augenblicklich wieder schlachten und exportieren.

In der Nacht zum 10. Juni gab es nach derselben Methode auch eine Freigabe für 60 Prozent der Schweinemäster und 83 Prozent der Rinderzüchter. Besonders die Freigabe der Liste unverdächtiger Rinderzüchter war für die belgische Regierung eminent wichtig. Gegen die Milchprodukte-Industrie verhängte der Brüsseler Gerichtshof ein Zwangsgeld von zwei Milliarden Franc (knapp 100 Millionen Mark) für jeden Tag, den sie ohne Freigabe der Liste verstreichen ließ. Dieser Termin trat am Mittwoch in Kraft. Seither dürfen alle Produkte nicht verdächtiger Unternehmen wieder verkauft und exportiert werden – sollte es überhaupt noch ausländische Interessenten geben.

Belgien scheint in den letzten Jahren auf Skandale abonniert zu sein, die noch dazu immer die Aufmerksamkeit der Weltpresse erregen. Dafür gibt es eine Reihe einfacher Erklärungen. Klüngeln, „sich arrangieren“, gehört in Belgien zum Volkscharakter. Das hat auch die Dioxin-Affäre wieder eindrucksvoll bestätigt.

Immer wieder wird in Belgien viel Energie (und Geld) aufgewandt, um die Volksgruppen – Wallonen, Brüsseler und Flamen – zusammenzuhalten. Darüber wird der Staatsapparat sträflich vernachlässigt und nicht modernisiert. Um den ideologischen und gesellschaftlichen Frieden zu wahren, besetzt man Richterämter und Ministerposten in aller Regel mit Leuten, die nach Weltanschauung und Parteizugehörigkeit, nicht so sehr nach ihren Fähigkeiten beurteilt werden. Das geschieht zweifellos auch anderswo auf der Welt. Das Dioxin im belgischen Futtermittel ist Ausfluß krimineller Energie, es kam ohnehin wahrscheinlich aus den Niederlanden. Auch in Frankreich ist ein Riesenskandal entstanden über den Dreck, der angeblich Viehfutter beigemischt wird. Aber mit Brüssel als Sitz der Nato und der Europäischen Kommission steht Belgien im Rampenlicht. Die Weltpresse bekommt eben mit, was in Belgien alles passiert.

Vor der Wahl gaben sechs von zehn Belgiern an, ihr Vertrauen in die Regierung sei erschüttert. Auch wenn sich die Koalition halten kann, ist zu erwarten, daß der Dioxin-Skandal den Rechtsextremen, wie dem Vlaams Blok, und den kleinen Protestparteien regen Zulauf bescheren wird.

Der Autor ist Umweltredakteur bei der Brüsseler Tageszeitung „De Standaard“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen