: Kein Ort, um sich zu verlieben
Lesbische und schwule Jugendliche haben nur die Wahl zwischen einer öden Jugenddiskothek und den Szeneclubs, in denen sie oft von Älteren angemacht werden. Auch an Coming-out-Gruppen mangelt es ■ Von Katrin Cholotta
Das Jugendfreizeitheim in der Soorstraße liegt fast am anderen Ende der Welt – oder zumindest am äußeren Rand von Berlin: in Westend. Jeden letzten Freitag im Monat tönen aus dem roten Backsteingebäude, das wegen der breiten Treppe und dem hohen Zaun ein wenig an eine Klosterschule erinnert, die mäßig-lauten Klänge von „Westend Boys and Girls“ – Berlins einziger schwul-lesbischer Jugenddisko. Eine Handvoll Jugendliche sitzt auf den Stufen vor der schweren Eingangstür. In der Hand eine Cola- oder Wasserflasche, denn Alkohol gibt es hier nicht zu kaufen. Am Ende des langen Flurs ist ein großer Raum in buntes Licht getränkt. Schräg aufgehängte Bilder versuchen die kühle Sterilität der türkisen Wände zu überdecken. Der etwas rundliche, mit weiten orangefarbenen Hosen und blauem Poloshirt bekleidete Barjunge öffnet eifrig eine Cola nach der nächsten. So richtig voll ist es in der Jugenddisko nicht.
Auf der Tanzfläche tummeln sich vier, fünf Leute: Grönemeyers „Gib mir dein Herz zurück“ wird gebührend tänzerisch interpretiert. Das größere Gedränge herrscht um den Kicker. Lautstark wird den Plastikfußballern der nötige Schwung versetzt. In den Mundwinkeln der Zuschauenden stekken nicht die üblichen Zigaretten, sondern weiße Lollistiele. Hier ist wenig von der sonst üblichen Coolness der Szene zu spüren.
„Jedes siebente Meerschwein ist schwul“, berichtet stolz der 14jährige Martin, der den weiten Weg aus Köpenick nicht scheut, „deshalb können Schwule gar nicht abnorm sein.“ „Westend Boys and Girls“ ist die einzige Szenedisko, die ihm Einlaß gewährt. Glücklicherweise hat sein Vater jeden letzten Freitag im Monat Nachtschicht. „Der würde das sonst nie erlauben“, bedauert Martin nüchtern. Aufgeregt schaut er immer wieder in Richtung Tanzfläche; den Kräftigen mit der beigen Cordhose und den kurzen, blondierten Haaren hätte er gern als Freund. „Der ist aber bestimmt schon zu alt für mich“, winkt Martin traurig ab und streicht behutsam durch sein halblanges, braunes Haar. „Ich wünschte mir, es würde noch mehr Orte geben, wo überwiegend Schwule in meinem Alter sind. Wo soll ich die denn sonst kennenlernen?“
Vor ein paar Monaten lag die Altersbegrenzung in der Jugenddisko noch bei 22 Jahren. „Da beschwerten sich aber so viele Ältere,“ sagt Christof Zirkel, der bei jeder Westend-Disko als Sozialarbeiter dabei ist, „daß wir das Alter heraufsetzen mußten“. Für schlappe zwei Mark erhält nun auch jeder 24jährige Einlaß. Dabei gibt es in der „Homo-Metropole“, wie Berlin in Szenekreisen gern genannt wird, über 20 schwul-lesbische Tanzclubs und weit über 100 Cafés und Bars ohne Altersbegrenzung.
„Viele Teenies fühlen sich der Anmache der älteren Szenegänger nicht gewachsen und können oft nicht 'nein‘ sagen“, sagt Christof Zirkel, der bei der schwulen Beratungsstelle Mann-o-Meter eine Jugendgruppe leitet. „Orte mit Altersbeschränkung, wo keine 40jährigen geifernd rumstehen, geben eine gewisse Sicherheit und Rückzugsmöglichkeit“, sagt Zirkel. Daß die Westend-Disko nur mäßig besucht wird, führt Zirkel auf die mangelnde Attraktivität des Ortes zurück: „Das ist viel zu weit ab vom Schuß.“ Eine Jugenddisko in zentraler Lage scheitere bislang an einem mietfreien Raum. Szenelokale aus Innenstadtbezirken hätten aus finanziellen Gründen abgewinkt. So bleiben nur die Räume, die das Bezirksamt Charlottenburg zur Verfügung stellt.
Zirkel kritisiert auch die schmale Palette schwul-lesbischer Beratungsangebote für Jugendliche: „Es ist und bleibt das Problem, daß zuwenig Geld da ist.“ Entgegen der Talkshow-Dialoge, wonach Homosexualität kein Problem mehr und darüber hinaus noch trendy ist, sieht die Realität junger Lesben, Schwuler und Bisexueller anders aus. Immer noch weiß ein großer Teil der Jugendlichen nicht, mit wem sie über ihre Gefühlswirrungen reden sollen. In der Schule wird Homosexualität kaum thematisiert, und auch im eigenen Elternhaus mangelt es häufig an Toleranz. Fünf schwul-lesbische Projekte leisten in Berlin mit großem Engagement Aufklärungs- und Auffangarbeit – meist unentgeltlich. So liefen beim „Jugendnetzwerk Lambda“ Ende Februar zwei ABM-Stellen für pädagogisch betreute Gruppen aus. Nun wird die Arbeit mit drei halben festen Stellen und 60 ehrenamtlichen Kräften weitergeführt. „Dabei steigt die Anfrage, besonders der 14- und 15jährigen, nach Jugendgruppen ständig“, mahnt Heiko Kleybökker, Geschäftsführer von Lambda. Auch Christof Zirkel sieht akuten Bedarf für weitere betreute Gruppen, doch dies sei mit den vorhandenen Geldern „nicht machbar“. Angesichts der leeren Landeskasse hat die Forderung nach festen Stellen allerdings wenig Aussicht auf Erfolg. „Wir sind froh, die bestehenden Angebote halten zu können“, sagt Almuth Draeger, Sprecherin von Jugendsenatorin Ingrid Stahmer (SPD). „Schließlich kann man nicht in jedem Jugendclub ein derartiges Angebot machen.“
Den Bedarf für Anlaufstellen, an die sich lesbische und schwule Jugendliche wenden können, bestätigt aber auch eine Untersuchung der Senatsjugendverwaltung. Die vom Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen initiierte Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben, Schwuler und Bisexueller bewertet die bestehenden Angebote „als gut, aber nicht ausreichend“. Auch fand die Mehrheit der Befragten „fast nie“ in herkömmlichen Beratungsstellen Hilfe. Die Studie ermittelte zudem eine erschreckend hohe Zahl selbstmordgefährdeter Jugendlicher, die sich im Coming-out allein gelassen fühlen. Selbstmordgedanken hatten 56 Prozent der männlichen und 64 Prozent der weiblichen Befragten schon gehegt. Einen Suizidversuch hatten jeweils 18 Prozent der Mädchen und Jungen schon hinter sich.
Eine der wenigen nicht schwul-lesbischen Einrichtungen, die seit dem vergangenen Herbst eine Gruppe für junge Lesben anbietet, ist das Mädchenzentrum Double X. „Da können die Mädchen einfach hingehen, ohne vorher schon eine Entscheidung über ihre sexuelle Orientierung getroffen haben zu müssen“, sagt Sozialpädagogin Jutta Brambach. „Wir brauchen unbedingt mehr lockere Angebote, wo Mädchen auch mal in der Gruppe zusammen ausgehen können. Das kostet nicht soviel Mut.“
Zum Glück hat mein Vater Nachtschicht. Der würde nie erlauben, daß ich in eine lesbisch-schwule Jugenddisko gehe.
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