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Ein mörderischer Titel, aber viele farbige Aquarelle

■ Juppheidi und juppheida: Der nagelneue „Grass“ kommt!

Das Jahrhundert ist gelaufen und geheftet. Die neue Zeitrechnung beginnt nicht, wie ursprünglich vorgesehen, am 1. 1. 2000, sondern schon wesentlich früher. Genauer: am 7. Juli 1999. Dann wird in allen deutschen Buchhandlungen gleichzeitig und palettenweise der ultimative „Grass“ erscheinen, worunter wir ein dickleibiges und stark überteuertes Buch des beliebten Pfeiferauchers Günter „Bremse“ Grass zu verstehen haben: „Mein Jahrhundert“ (Steidl Verlag, 416 Seiten, „ausgestattet mit farbigen Aquarellen von Günter Grass“, 98 Mark).

Für den mörderischen Titel hat der Autor („Grass“) eine chaotische Erklärung parat: „1927 geboren, sehe ich dieses mörderische und chaotische und so rasch voranschreitende Jahrhundert als mein Jahrhundert an.“ Paff! Und keiner kann es ihm mehr wegnehmen.

Nein, jetzt gehört es Günter Grass alleine, und wir müssen's ihm abkaufen. Das erstaunlich klobige Werk reiht ca. exakt 100 Kurzgeschichten auf, die, einem Einfall des Künstlers („Grass“) folgend, nach der Größe der in ihnen spielenden Jahreszahlen geordnet sind, z. B. 1926, 1927, 1928, 1929 usw. usf. Für jedes Jahr hat sich Günter Grass mit seinem eigenen Kopf eine Geschichte ausdenken müssen. Anfangen tut das Buch mit den Worten „Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen“, was eindeutig beweist, daß der Autor in hohem Maße kompetent ist.

Und dann noch die Bilder, wo Grass gemalt hat! Damit das Buch („der neue Grass“) beim Endverbraucher ankommt, wird im Steidl Verlag tüchtig auf die Rassel gehauen, denn Pauken gehört zum Handwerk. Der Autor hängt an und steht hinter seinem Werk, es ist das allerletzte Aufbäumen des kaschubischen Cordschnauzers. Wenn er's damit nicht packt, will er's nimmermehr packen.

Bereits morgen beginnt daher die Zeit mit dem Vorabdruck des Werks. Um die dafür erforderlichen Papierkontingente aufbringen zu können, mußte die Hamburger Deutschlehrerzeitschrift schon vor Wochen das beliebte Zeit-Magazin einstellen. Fast hätte sich der Vorabdruck über die nächsten 4.200 Ausgaben hingezogen, denn in Hamburg wurde zunächst erwogen, das Werk nur buchstabenweise vorabzudrucken. „Damit sich unsere Leser an den eigenwilligen Altersstil von diesem Grass gewöhnen können“, wie Zeit-Chefredakteur Roger „de“ Weck augenrollend anmerkt. Für Hartgesottene und Blinde wird Grass ab 10. 7. im WDR sein Jahrhundertwerk, der SWR beginnt am 16. 7. mit der täglichen Ausstrahlung (Mo. bis Fr. 15.05 bis 15.30 Uhr), 3sat startet am 16. 10. mit der Übertragung der vollständigen Lesung in mehreren Matineen, und Radio Bremen zieht im November nach. Das reicht aber noch lange nicht. Um neue Grassleserschichten zu erschließen, plant der Dudelsender Viva, ab 7. 7. täglich die Sendung „Voll Grass, ey!“ auszustrahlen. Flankierend will der Kinderbekleidungshersteller H & M ab dem Erstverkaufstag am 7. Juli zahngelbfarbene Breitcordhosen mit sagenhaft ausgebeulten Taschen und modische Großrotzlappen im „Grass Style“ bereithalten.

Kritisch gibt sich einzig die FAZ. Frank Schirrmacher plant, das komplette Werk bereits am 5. Juli von Martin Walser mißverstehen zu lassen, evtl. wird sogar Rudolf Augstein ab 12. Juli einen bemerkenswert trübsinnigen Chef-Essay zum Kasus absondern, Titel: „Hitler und Grass“ oder andersrum. Selbstverständlich wird er dafür von Ignatz Bubis in einer „Vorsicht Friedman!“-Sondersendung schärfstens verurteilt werden (hr, 12. 7., 20.15 Uhr). Verfilmt wird der Scheiß wie immer von Dietl mit V. Ferres als Schnauz und M. Bleibtreu als Pfeife. So schön das alles nun sein mag – die Sache hat auch ihr Gutes. „Ich bin leergeschrieben mit diesem Buch“, röchelt Grass. „Das muß auch so sein. Der Autor muß am Ende erschöpft sein.“ Wir sind es jetzt schon. Oliver Maria Schmitt

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