: „Kein Kuhhandel mit der Türkei“
■ Für Claudia Roth, Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, hat die Demokratisierung in der Türkei derzeit kaum eine Chance. Die Soysal-Verhaftung zu Beginn des Fischer-Besuches zeige, daß die kurdische Frage ein absolutes Tabu bleibt
taz: Die Umstände, unter denen der vermeintliche PKK-Funktionär Cevat Soysal in die Hände des türkischen Geheimdienstes geraten ist, deuten nicht gerade auf einen Demokratisierungsprozeß in der Türkei hin.
Claudia Roth: Das stimmt. Solange in der Türkei von Demokratisierung gesprochen wird, darin aber nicht gleichzeitig die Frage der Anerkennung der kurdischen Realität und Identität einbezogen ist, kann daraus nichts werden.
Viele türkische Politiker wollen eine Demokratisierung, aber keine Freiheit der Diskussion um die kurdische Frage.
Ich hatte kürzlich ein längeres Gespräch mit dem türkischen Justizminister, den ich als Person hoch achte. Er hat die Reformen, die in der Türkei angedacht sind, vorgestellt. Die Strafprozeßordnung soll geändert werden, es soll Entschädigungen für Terroropfer geben sowie eine schärfere Bestrafung von Folterern. Das hört sich alles gut an. Aber auch bei ihm ist die kurdische Frage ein absolutes Tabu. Wie aber soll eine Demokratisierung ohne uneingeschränkte Meinungsfreiheit möglich sein?
Die kurdische Frage bleibt also für die Türkei der springende Punkt auf ihrem Weg in die EU?
Demokratie und die Menschenrechte sind sicher die entscheidenden Kriterien für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Diese wurde von seiten der EU allerdings bislang sehr doppelbödig und heuchlerisch mißbraucht. Rüstungsexporte und Polizeikooperationsmodelle haben wenig mit Menschenrechtspolitik zu tun. Ich erwarte, daß mit dem Besuch von Joschka Fischer eine glaubwürdigere Politik der EU gegenüber der Türkei deutlich wird. Glaubwürdig, weil sie sagt, es ist nicht eine Frage der Religion, ob ein Land Mitglied der EU werden kann, sondern eine Frage der Einhaltung der Kopenhagener Kriterien. Das sind ökonomische Kriterien, dazu gehören aber auch Demokratie und Menschenrechte.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, daß Öcalan nicht hingerichtet wird?
Ich war vor meinem letzten Besuch optimistischer, daß es nicht passieren wird. Es wäre unglaubwürdig, mit der Türkei einen Kuhhandel zu versuchen und zu sagen, wenn ihr ihn nicht hinrichtet, seid ihr Kandidat für die EU. Aber man sollte deutlich machen, daß es im Interesse der türkischen Gesellschaft liegt, die Todesstrafe nicht zu vollstrecken. Das wäre ein echter Rückschritt im Demokratisierungsprozeß. Eine Brücke würde abgerissen, die notwendig ist für einen Frieden zwischen Türken und Kurden. Dann wäre es lange Zeit zappenduster – auch bei uns in Deutschland.
Was, glauben Sie, steckt hinter dem Fall Soysal?
Die Koinzidenz zwischen dem Besuch Fischers, auf den viele Erwartungen gesetzt werden, und dieser Verhaftung scheint mir kein Zufall zu sein. Es ist der Versuch zu zeigen, wer die wirklich starken Kräfte in der Türkei sind, auch ein Zeichen dafür, daß die kurdische Frage im Moment keine Priorität hat. Interview: E. Seidel
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