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„Das ist auch mein Drama“

■ Prozess gegen Entführer von Jan Philipp Reemtsma gestern in Hamburg eröffnet

Obwohl die Handschellen vor der Tür abgenommen wurden, hat Piotr L. die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als er den Saal betritt. Scheu blickt er nur kurz zu den ZuschauerInnen, ehe er nach vorne eilt und sich auf die Anklagebank neben seine Dolmetscherin setzt. Dort senkt er sofort den Blick.

Würde er ihn aufrichten, er müsste dem Mann in die Augen schauen, den er im Frühjahr 1996 so gepeinigt hatte. Jan Philipp Reemtsma hat keine Scheu, seinen Entführer zu mustern. Das Kinn auf die Hand gestützt, hält er fast starr den Blick auf Piotr L. gerichtet, während sein Gegenüber sich unter seinem Blick zu ducken scheint.

Erst Minuten später, als die Anklage verlesen ist, traut sich Piotr L., Kontakt zu dem Hamburger Millionär Reemtsma aufzunehmen: „Ich möchte mich an dieser Stelle für das große Leid, das wir ihm zugefügt haben, entschuldigen“, sagt er, und: „Das ist auch mein Drama.“ Reemtsma zeigt keinerlei Regung.

Piotr. L. räumt freimütig ein, Täter zu sein. Gleichzeitig stellt er sich auch als Opfer der damaligen Mitentführer da. Missbraucht habe man ihn, behauptet er. Mittäter Wolfgang K. habe ihn mit der Geschichte angeworben, dass er helfen solle, die Schulden eines ehemaligen Geschäftskollegen einzutreiben. Mit 15.000 Mark geködert habe er die Geschichte gerne geglaubt.

Am Abend des 25. März 1996 hatte Piotr L. zusammen mit dem mutmaßlichen Haupttäter Thomas Drach Reemtsma auf dessen Grundstück in Blankenese aufgelauert. Als der Millionär erschienen sei, hätten sie ihn überwältigt, gefesselt und in das Haus im niedersächsischen Garlstedt verbracht, wo er 33 Tage lang gefangen gehalten wurde. Piotr L. beteuert vor Gericht, dass nur er und Drach an der Überwältigung Reemtsmas beteiligt gewesen seien. Der Spiegel behauptet in seiner aktuellen Ausgabe, dass ein dritter Mann den Wagen nach Garlstedt gefahren habe.

Noch zwei Wochen lang habe er an die Version geglaubt, dass es sich um einen säumigen Schuldner handelte, der da im Keller eingesperrt war. Dann habe er erstmals das Kellerverlies betreten. Mit einer Kapuze über dem Kopf habe Reemtsma dagelegen, ein Bein mit einer Eisenkette an die Wand gefesselt. Da sei ihm aufgegangen, dass „das Ganze nicht normal ist“.

Obwohl Drach ihm mittlerweile drei Millionen Mark dafür geboten habe, das Haus weiterhin zu bewachen, sei L. ausgestiegen. Drei Tage später, nachdem die erste Lösegeld-Übergabe gescheitert war. Zunächst in Spanien untergetaucht, stellte sich Piotr L. im März diesen Jahres der Polizei.

Mittlerweile verliest sein Anwalt die Erklärung von Piotr L. Die beiden haben den Platz getauscht. Nun sitzt der Verteidiger dem Entführungsopfer direkt gegenüber. Nach jedem Satz hebt er den Kopf und sieht Reemtsma an. Der erwidert den Blick hoch konzentriert. Vor der Richterbank scheint sich ein stummes Zwiegespräch zu entwickeln. Reemtsma beginnt, sich Notizen zu machen. Seine einzige Regung.

Dass er zunächst an der Nase herumgeführt worden sei, hat die Staatsanwaltschaft Piotr L. geglaubt und ihm auch in der Anklage nichts anderes unterstellt. Der Anwalt von Reemtsma indes, Johann Schwenn, macht keinen Hehl aus seinen Zweifeln an dieser Geschichte. Er nimmt Piotr L. ins Verhör, das in der Frage gipfelt: „Waren Sie schon öfters an solchen Taten beteiligt?“ Piotr L. weigert sich, weiterhin Fragen zu beantworten. Der Prozess wird fortgesetzt.

Elke Spanner

weiterer Bericht auf S. 6

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