: Jenseits der Wühltischkultur
■ Vor einem Jahr wollten die Gewerkschaften die Büchergilde Gutenberg abschaffen / Heute feiert sie ihren 75. Geburtstag – als privates Unternehmen – auch in Bremen
Wer den vor einem Jahr frisch renovierten, mit Maßarbeit von einem ostdeutschen Möbelbauer bestückten Buchladen von Rosie Kühne am Bremer Breitenweg betritt, wird ganz automatisch einen Kontrollblick nach unten werfen, auf die eigenen Fettfinger: Sind sie auch sauber genug, um mit dem noblen Papier in Körperkontakt zu treten, das sowohl die Bestseller von Krimifrau Ingrid Noll ziert als auch Nick Knicks poppigen Fotokunstband voller Blumen, die wie Technokids fluoreszieren – von den Klassikern, Münchhausen, Fontanes Stechlin, Arthur Koestlers legendären Stalinismusroman „Sonnenfinsternis“, ganz zu schweigen. Sogar unserem Adolf (die bekannte Biografie von Ian Kershaw) möchte man, trotz dezentem Braunstich, liebevoll über den (Buch)rücken streicheln.
Einst sollte die Büchergilde schöne, vor allem aber billige Bücher für die Arbeiterklasse ermöglichen. Heute dagegen, wo sich jedes Suhrkampbuch irgendwann mal im Wühltisch für zwei Mark wiederfindet, ist die Büchergilde Reservat einer bibliophilen Kultur. Nicht als schnödes Konsumgut für ein paar vergnügliche Stunden, sondern als Schätze fürs ganze Leben soll so ein Buch an- und aufgefasst werden.
Unter den ersten Büchern der Gilde finden sich erstaunlich viele Abenteuerromane, von Jack London über Ludwig Anzengruber bis zum mysteriösen, niemals eindeutig identifizierten Weltenbummler B. Traven. Aber schon „Mit heiteren Augen“ von Mark Twain, das allererste Buch der Gilde, endet nach diversen Tom Sawyer-Scherzen mit einem klassenbewussten Satz über den Maler J.-F. Millet: „Er war ein genialer Mann, der sich nicht zu Tode gehungert hat, der nicht den Lohn, der ihm gebührte, in die Taschen anderer fließen ließ.“ Nieder mit der Ausbeutung.
Apropos fließendes Geld. Die Gewerkschaften, einst Eigentümer der Gilde, wollten kein Geld mehr in das Verlustgeschäft stecken, Bildungsauftrag hin oder her. Bevor sie die Adressen an den Erzfeind und Monopolisten Bertelsmann verschacherten, entschieden sich vier Leute vom Verlag zu einem klassischen Management by out. Sie übernahmen den Laden, konnten die Gewerkschaften noch zu finanziellen Beihilfen für Renovierungsarbeiten überreden und investierten ihre Abfindungen in das Unternehmen. Die 83 Läden operieren auf Basis selbstständigen Franchisings. Aber nicht wie McDonalds-Filialen mit ihren permanenten Rechtsstreits mit der Konzernmutter, „sondern echt partnerschaftlich“, erzählt Buchhändlerin Kühne.
taz: Wie kam es 1924 zur Gründung der Gilde?
Rosie Kühne, Gilde-Buchhändlerin: Auf einer Tagung des Bildungsverbands deutscher Buchdrucker in Leipzig. Diese Handwerker wollten sich nicht nur als Erfüllungsgehilfen verstehen, sondern auch selber gestalten. Natürlich stand da auch eine politische Intention dahinter: Bücher für Jedermann. Erst später klinkten sich dann die Gewerkschaften ein. In dieser Zeit entstanden übrigens etliche Buchgemeinschaften mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung.
Wie kamen die vielen Abenteuerromane ins Programm?
Bei einem B.Traven zum Beispiel geht es nicht nur spannend zu. Da wurden auch die bedrückenden Arbeitsbedingungen von Seeleuten, Minen- und Landarbeitern geschildert.
Was hat sich geändert in 75 Jahren?
Das was heute die Läden sind, waren früher lediglich Lagerdepots für 10.000 sogenannte „Vertrauensleute“. Die suchten dann die bis zu 300.000 Mitglieder bei sich zu Hause auf und berieten sie. Eine ganz andere Kultur der Kommunikation. Heute sind wir keine Massenorganisation mehr. Wir besezten eher eine Qualitätsnische. Das Mitgliedervolk ist bunt gemischt. Hier in Bremen im Laden treffen sich und quatschen Leute miteinander, die schon 40 Jahre bei uns sind mit solchen, die erst kürzlich Mitglied wurden, ganz einfach, weil die Bücher, die wir von anderen Verlagen in Lizenz übernehmen, bei uns um etwa 20 Prozent billiger sind. Neulich kam jemand im Blaumann herein. Ich dachte, der sucht ein Wasserrohr. Wollte aber ein Buch.
Lieblingsbücher?
Unser erstes Buch; zum Jubiläum erschien es in einem Nachdruck. Der rote Leineneinband, Illustrationen und Schrifttypen überzeugen noch heute. Vielleicht noch Stevensons Jeckyll & Hyde: Die Dicke der Buchstaben verändert sich mit dem Charakter des Helden. Das ist der gelungene Versuch einer optischen Widerspiegelung des Inhalts. Weil unser Geburtstag so nah mit dem von Goethe zusammen liegt, hat der Verlag den Reineke Fuchs wiederaufgelegt mit den deftigen Illustrationen von Michael Mathias Prechtl. Auch ein Freund des Hauses. Seit drei Jahren geben wir Kalenderbücher heraus. Das für das Jahr 2000 wird von der Grafikklasse von Eckart Jung an der Bremer HfK gestaltet.
Ästhetisch ist die Büchergilde ganz vorne dabei. Keine Spur von Verschnarchtheit. Deshalb bleiben BuchhändlerInnen wie Kühne bei der Stange. Obwohl die finanzielle Schräglage (noch) nicht ganz gelöst wurde. Bei 20 Millionen Umsatz machte das Unternehmen 1998 200.000 Mark Miese.
bk
Heute 11 bis 14 Uhr: Geburtstagsfete im Laden am Breitenweg 3. 9. bis 30. September ebendort: eine Ausstellung mit historischen Büchergildenbüchern.
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