piwik no script img

■ Die Botschaft der Wahlen ist eindeutig: Die Politikverdrossenheit kehrt zurück. Und: Eine blairistische SPD wird untergehenDer Zug der Lemminge

Lohnt es, für das eigenwillige Schrödersche Gemeinwohl die SPD zu zerstören?

Die Botschaft des Wahlvolks könnte eindeutiger nicht sein: Schröders, Eichels und Riesters Politik beschleunigt die Auszehrung der ohnehin instabilen sozialdemokratischen Wählerbasis. Die rot-grüne Bundesregierung sägt den Ast, auf den sie gewählt wurde, so gut sie nur kann, ab. Wo auch immer die „Neue Mitte“ – sofern sie nicht nur das Kunstprodukt von „spin doctors“ ist – existieren mag: An der Saar und in Brandenburg wird man sie vergebens suchen.

Noch mag sich die Bundesregierung unter dem Schock des Ergebnisses mit der Floskel, dass eine dem Gemeinwohl und der Zukunft dienende Politik unpopulär und schwer zu vermitteln sei, trösten. Aber vielleicht kehrt, wenn der Schmerz weicht, Nachdenklichkeit ein: Ob es das vom ehemaligen VW-Aufsichtsrat Gerhard Schröder eigenwillig interpretierte Gemeinwohl wirklich wert ist, die SPD zu zerstören? Ob die gegenwärtige Situation nicht gespenstisch an ein altes sozialdemokratisches Verhaltensmuster erinnert: unter Opfern und Schmerzen die Politik von Bürgertum und Kapital zu betreiben, um dann, wenn diese Politik exekutiert ist, aus Macht und Einfluss verjagt zu werden?

Vor den harten Fakten der Wahlgeografie erweist sich der Streit um Traditionalismus und Modernisierung, um „dritte Wege“, kurz: um das Modell von Tony Blair als gegenstandslos. Eigentlich hätte immer schon klar sein müssen, dass dessen Politik in Deutschland operativ nicht umsetzbar ist. Das traditionsreiche, absolut liberale, aber nicht demokratische britische System mit seinem Mehrheitswahlrecht, seinen Vorrechten des Premiers und der Abwesenheit des Föderalen begünstigt ruckartige Politikwechsel. Ohne diesen britischen Kontext wäre der eigentümliche Sozialdemokratismus Tony Blairs weder möglich noch zu verstehen.

Als kleinster gemeinsamer Nenner der Wahl gilt das lautstarke Entsetzen über den Wahlerfolg der DVU. Der Einzug der rassistischen Partei wird zumal von Ministerpräsident Stolpe wortreich beklagt, ohne zu sehen, dass dieser Erfolg nur der Ausdruck einer niedrigen Wahlbeteiligung ist. Dass eine ausländerfeindliche Grundstimmung in Ostdeutschland weit über rechtsextreme Parteien hinaus die Basis aller anderen Parteien, zumal der Jugend, ergriffen hat, war seit Jahren bekannt, den Regierenden jedoch keine besondere Intervention wert.

Wahlenthaltung ist das deutlichste Zeichen eines mit dem rot-grünen Wechsel nur vermeintlich verscheuchten Gespenstes: der Politikverdrossenheit. Sie resultiert aus Enttäuschungen und dahinschwindender Legitimationskraft der Politik. Ein Rückgang der Wahlbeteiligung im Saarland um 15 Prozent mag noch hingenommen werden, eine brandenburgische Wahlbeteiligung von 50 Prozent hingegen ist sogar für den Osten beunruhigend wenig.

Als Dreh- und Angelpunkt der Legitimationskrise erweist sich neben dem Sparpaket die Rentendebatte. Paradoxerweise trägt die von einem ansonsten verantwortlich denkenden Politiker, Arbeitsminister Riester, vorgetragene Rentenpolitik zur Destabilisierung des politischen Systems in Deutschland bei. Dabei scheinen die Angriffe auf sein Programm wenig gerechtfertigt. Denn es ist ja richtig: Alles in allem werden die inflationsangepassten Renten kaum weniger betragen als die nach dem Nettolohnprinzip ausgezahlten. Aber darum geht es nicht. Und daran, dass die Regierung nicht sehen will, dass es nicht um die nominale Rentenhöhe geht, zeigt das ganze Ausmaß der Krise.

Wie die Renten langfristig gesichert werden können, das erweist sich nicht nur als eine fachlich besonders schwierige, sondern auch als eine politisch besonders heikle Frage. Rührt sie doch an eine der Grundfesten des bisherigen, in vier Jahrzehnten von allen Parteien aufgebauten Sozialstaats.

An diesem System hängen mindestens die abhängig Beschäftigten – sehr viel mehr als am Wohlstandssymbol D-Mark. Der eventuell notwendige Systembruch hätte gründlichster Vorbereitung und geduldig werbender Argumente bedurft. Durch den planen Wortbruch des Kanzlers aber wird das Vertrauen nicht nur in seine Person, sondern auch in die Koalition und – viel bedenklicher – in das ganze demokratische System unterhöhlt. Predigen doch gerade die Ideologen der „Neuen Mitte“ neben Sparsamkeit und Zukunftsvorsorge kommunitaristische Werte wie Verantwortung und Mitleid. Wenn jede Hausfrau weiß, dass gespart werden muss, dann weiß auch jedes Kind, dass Versprechen zu halten sind. Nicht alle Wähler denken so wie zynische „Informationseliten“, die ohnehin wissen, dass in Wahlkämpfen gelogen wird.

Ursache der gegenwärtigen Krise sind nicht die Grünen, sondern die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und ihr Kanzler. Aber grüne Fraktion und Spitze der Bundespartei tun alles, um die Krise zu verschärfen. Im Rausch des Glücks, ohne Dissonanzen über den Sommer gekommen zu sein, gerieren sie sich als Prätorianergarde des Sozialabbaus. Mangels anderer Erfolge rühmen sich Fraktion und Partei, einschließlich ihrer linken Sprecherinnen, der Geschlossenheit in der Rentenfrage.

Auch die Grünen wollen „Kurs halten“. Wie lange währt diese Illusion noch?

Auch dem widerspricht das Wahlergebnis. Als starke und selbstbewusste westdeutsche Regionalpartei zu agieren, daran hatte man sich gewöhnt. Davon kann seit Sonntag keine Rede mehr sein. Im westlichsten Bundesland jedenfalls gibt es keine Grünen mehr. Wohl wird die Lebenslüge von den „hausgemachten Personalproblemen“ noch ein Weilchen den Verlust der Wahl und zumal der Jungwähler überdecken – mindestens so lange, bis nächstes Jahr in Schleswig-Holstein, einer der Wiege der Grünen, die Stunde der Wahrheit schlägt. Im Norden wird weder die Rhetorik „nachhaltiger Finanzpolitik“ noch der Mannesmut wider populistische Versuchungen, an der sich die Parteispitze derzeit versucht, Jungwähler und Naturschützer an die Urnen bringen.

Die Wahlforschung hat der Partei akribisch vorgerechnet, dass sich der jetzt forcierte neoliberale Kurs nicht auszahlen wird. Angesichts dessen verblüfft die Sturheit, mit der mann und frau der Bundespartei die machistischer Seefahrerromantik entliehene Floskel vom „Kurs halten!“ bemühen.Wo doch – will man schon bei der maritimen Sprache bleiben – allenfalls ein „Rette sich, wer kann“ angemessen wäre.

Der Film dieses Herbstes, Stanley Kubricks Vermächtnis, heißt „Eyes wide shut“. Der Sog in den Abgrund wirkt auch in der Politik. Dabei sind der narkotisierenden Sprüche viele: Lass die Hunde nur bellen, so mag sich das Regierungslager sagen, die Karawane zieht weiter – ohne zu sehen, dass diese Karawane in Wahrheit nur den Zug der Lemminge vollzieht. Micha Brumlik

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen