: Wie Herr Heger um Knacki-Stimmen kämpft
Die Grünen bringen als einzige regelmäßig Wahlmaterialien in die Berliner Gefängnisse. Alle anderen politischen Parteien ignorieren die potenziellen Wähler in den Justizvollzugsanstalten ■ Von Sonja Popovic
Das Paket, das Jörg Heger abgeben möchte, passt nicht durch das Gitter. Die Pförtnerin der Justizvollzugsanstalt für Frauen (VAF) in der Ollenhauerstraße zögert einen Augenblick, als würde es ihr große Umstände bereiten, den Mann hereinzulassen. Doch dann schließt sie das Fenster und drückt auf den Türöffner.
Weiter als zwei Schritte kommt Heger allerdings nicht. Er gibt sein Paket ab und verabschiedet sich. „Im letzten Jahr wurde ich viel herzlicher empfangen“, erzählt er enttäuscht. „Es schien so, als hätten die regelrecht auf mich gewartet.“ Letztes Jahr war Bundestagswahl.
Seit vier Jahren fährt Heger vor jeder Wahl von einem Berliner Gefängnis zum anderen und verteilt Wahlmaterial der Grünen. Heger meint: „Es ist die Aufgabe der Parteien, an alle wahlberechtigten Bürger heranzutreten. Da darf man die Gefangenen nicht ausgrenzen.“
Er arbeitet ehrenamtlich als freier Mitarbeiter in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel und ist seit 20 Jahren Grüner. „Soweit ich weiß, waren die Grünen in der Vergangenheit die Einzigen, die sich überhaupt um diese Wählergruppe gekümmert haben.“ In Berlin befinden sich knapp 5.100 Menschen hinter Gittern.
Der rechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne, Norbert Schellberg, glaubt nicht, dass die Grünen dadurch mehr Wähler bekommen: „Schließlich wissen wir auch nicht, ob jeder, dem wir auf der Straße Wahlmaterial mitgeben, die Grünen wählt.“ Es gehöre aber zur politischen Grundüberzeugung der Grünen, dass die demokratischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger bestehen bleiben, „auch wenn sie inhaftiert sind“.
Grundsätzlich ist es allen Parteien und Verbänden gestattet, Wahlmaterial in Gefängnissen auszulegen. Wahlveranstaltungen sind dagegen aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Alle Berliner Gefängnisse wurden von der Senatsverwaltung für Justiz angewiesen, Wahlmaterial „an für Gefangene frei zugänglichen Stellen“ auszulegen wie auf Fluren und in Bibliotheken. Auch die Parteien wurden darüber informiert. Bis auf die Grünen macht keine Partei davon Gebrauch.
Nicht allen Parteien ist allerdings bekannt, dass das Austeilen von Wahlmaterial im Gefängnis erlaubt ist. Der Sprecher des SPD-Landesverbandes, Frank Zimmermann, zeigte sich ahnungslos und reagierte genervt: „Dann machen wir halt 'ne Wahlveranstaltung“.
Die Wahlbeteiligung bei den Gefangenen wird nicht genau erfasst. Es wird lediglich gezählt, wie viele Briefwahlunterlagen eingeschickt werden.
Bei der Bundestagwahl 1998 gab es 5.050 Häftlinge, darunter waren etwa 3.000 Wahlberechtigte. 1.577 Wahlbriefe wurden eingesandt. Zudem gaben 421 Gefangene aus dem offenen Vollzug an, dass sie direkt wählen wollten. Wie viele der Gefangenen gewählt haben, lässt sich nicht sagen. Aber wenn auch nur die Hälfte von ihnen zur Wahl ginge, ergäbe das eine Wahlbeteiligung von insgesamt 55 Prozent.
Der Wahlsachbearbeiter der JVA Tegel, Andreas Ochmann, hält das politische Engagement inden Gefängnissen für genauso groß wie außerhalb der Mauern. „Es ist nicht so, dass die Gefangenen ihr Interesse am Gefängnistor abgeben.“
Die Wahrnehmung innerhalb der Gefängnismauern ist allerdings eine andere. Der Gefangene Heiko D., seit dreieinhalb Jahren in der JVA Tegel: „Anfangs habe ich noch gewählt. Jetzt halte ich das für Zeitverschwendung. Viele hier sind genau der gleichen Meinung.“
Für die Wahlprozedur gibt es feste Abläufe, die für die Anstalten aufwendig sind. Gefangene im geschlossenen Vollzug können nur per Briefwahl wählen. Alle Wahlberechtigten werden auf einer Liste erfasst, die an die Bezirkswahlämter geschickt wird. Von dort aus werden die Briefwahlunterlagen an eine zentrale Stelle der Gefängnisse versandt.
Da die Gefangenen keine eigenen Briefkästen haben, kümmern sich die Gefängnisanstalten darum, die Unterlagen anzufordern und auszuhändigen. Jeder Gefangene, der wählen möchte, muss also vorher ein Antragsformular ausfüllen. Anschließend werden die Wahlzettel wieder eingesammelt und an die Wahlämter weitergeleitet.
Die meisten Anstalten sind darüber informiert, dass die Parteien Wahlmaterial auslegen dürfen und nehmen die Pakete von Jörg Heger entgegen. Nur an der Besucherpforte der JVA Moabit hat er Ärger. Der Beamte weigert sich, das Material anzunehmen. „Herr Flügge“, donnert er und meint den Abteilungsleiter der Senatsverwaltung für Justiz, „mag ja ein mächtiger Mann sein, aber hier vor Ort entscheiden andere Leute.“ Da er jedoch im Augenblick keinen sachkundigen Vorgesetzten erreichen kann, darf Heger das Material dann schließlich doch noch abgeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen