: Trauma nach der Überprüfung
■ Bosnische Flüchtlinge protestieren gegen die Überprüfung von Attesten durch den Polizeiärztlichen Dienst. Anerkennungsquote von Trauma-Attesten tendiert gegen null
In einem offenen Brief haben 176 bosnische Flüchtlinge den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen aufgefordert, ärztliche Atteste, die einer Rückführung widersprechen, nicht länger durch den Polizeiärztlichen Dienst überprüfen zu lassen. Die Untersuchungen würden weder mit der nötigen Sorgfalt noch von fachlich kompetenten Ärzten vorgenommen und führten immer wieder zu einer Retraumatisierung, heißt es in dem Schreiben, das der Politikprofessor Hajo Funke gemeinsam mit einigen Flüchtlingen gestern der Öffentlichkeit präsentierte.
Seit die Senatsverwaltung für Gesundheit aus finanziellen Gründen nicht mehr über eine eigene Abteilung zur Überprüfung von Kriegstraumata verfügt, werden Flüchtlinge, die im Besitz eines Attests sind, das ihnen Traumatisierung oder Reiseunfähigkeit bescheinigt, regelmäßig dem Polizeiärztlichen Dienst vorgeführt. Dort entscheidet ein Arzt in einer halb- bis einstündigen Untersuchung über die Glaubwürdigkeit des Attests.
Nach Angaben der Innenverwaltung wurden zwischen Oktober 1998 und März 1999 alleine 300 Flüchtlinge vorgeladen. Etwa die Hälfte von ihnen, um eine Traumatisierung zu überprüfen. In fast 90 Prozent der Fälle wurde der fachärztlichen Diagnose kein Glauben geschenkt. Im Amtsdeutsch: „Eine durch Kriegsereignisse hervorgerufene psychische Störung mit Krankheitswert konnte nicht erkannt werden.“
Als „skandalös“ bezeichnen Fachärzte und Anwälte die gängige Praxis. Die oft seit Jahren in Behandlung befindlichen Betroffenen würden vorgeladen mit der Bitte, selbst einen Dolmetscher mitzubringen, müssten peinliche Fragen beantworten und würden anschließend mit ihren Gefühlen allein gelassen, konstatiert Ralf Weber vom Behandlungszentrum für Folteropfer. Einige würden in Handschellen vorgeführt. „Die Rückschritte in der Therapie, die es auslöst, wenn ein traumatisierter Mensch plötzlich dem völlig fremden Arzt gegenüber intime Dinge äußern muss, sind immens“, so Weber. In der Praxis bedürfe es wochenlanger Arbeit, um herauszufinden, ob ein Kriegsflüchtling unter posttraumatischen Störungen leide.
Funke verweist darauf, dass die gegen null tendierende Anerkennungsquote der Polizeiärzte ferner allen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Anzahl traumatisierter Menschen aus dem ehemaligen Kriegsgebiet widerspreche.
Das Berliner Verwaltungsgericht hatte erst im August das derzeit durchgeführte Verfahren als „aus mehreren Gründen rechtswidrig“ erklärt. Die Untersuchung berücksichtige weder die besondere Situation traumatisierter Flüchtlinge, heißt es in dem Beschluss, noch beachte sie den Grundrechtsschutz der Betroffenen. Als rechtswidrig wurde auch bemängelt, dass die Vorgeladenen selbst eine „sprachkundige Person“ mitbringen sollen. Die Richter im Wortlaut: „Die Vorstellung, die achtjährige Tochter müsse eine ... von der Mutter erlebte Vergewaltigung übersetzen, ... ist so ungeheuerlich, dass ein sachkundiger Facharzt eine solche Situation von vornherein vermeiden würde.“ Jeannette Goddar
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