piwik no script img

Zunge im Ohr

Lemn Sissay und Dana Bryant im Mojo  ■ Von Georg Felix Harsch

Jazz Poetry, Dub Poetry oder Black Poetry – sind die Begriffe, die verschiedene Ausprägungen einer Lyrik bezeichnen, die in Nordamerika, Europa und Afrika unter unterschiedlichsten Bedingungen seit mehreren Jahrzehnten floriert. Verschiedenen Varianten des Englischen als Muttersprache verpflichtet, aber unabhänging vom Traditionsrahmen der Shelleys oder Whitmans, konnten sich schwarze Poeten ein eigenes Bezugs-Netzwerk aufbauen, das alle Facetten von Blackness spiegeln kann.

Die historischen Erfahrungen von Kolonialisierung und Versklavung, die aktuelle gesellschaftliche und die eigene emotionale Situation finden so eine Sprache, die ebenso musikalisch wie literarisch ist. Damit verbinden diese Texte, immer angebunden an die Entwicklungen in anderen afroamerikanischen und -europäischen Kunstformen, ihre Form der oral tradition mit einer sehr modernen medialen Präsenz.

Was Anfang des Jahrhunderts als ,Harlem Rennaissance' begann, entwickelte sich im Verlauf der amerikanischen Popgeschichte zu dem Schnittpunkt zwischen Pop und Literatur, dem auch der weiße Kulturbetrieb kaum etwas entsprechendes entgegenzusetzen hat.

Heute sind die großen Namen der 60er und 70er Jahre, Gil Scott Heron oder Linton Kwesi Johnson, ebenso historisiert wie ihre politischen Gegenparts Malcolm X oder Angela Davis; als Quelle der Inspiration dienen sie gleichwohl. Und wo früher Jazz, Soul oder Reggae als Katalysatoren wirkten, da funktionieren heute HipHop und Breakbeats als Teil dieser Sprache. In Großbritannien, wo man erst in den 70er Jahren auf das Phänomen Black Poetry aufmerksam wurde, performative Lyrik aber jeher von Bedeutung war, sind die jungen schwarzen Literaten mittlerweile essentieller Bestandteil der Clubkultur. Ihr zur Zeit erfolgreichster Vertreter heißt Lemn Sissay, kommt aus Manchester und wird von alternden Acid-Jazzern, jungen Ravern und dem literarischen Establishment gleichermaßen hofiert. Auf Leftfields „Leftism“ rezitierte er vor vier Jahren sein „21st Century Poem“, und in der bildung-sbürgerlichen BBC-Institution Radio 4 wurde eines seiner Gedichte zum „Pick of the Week“ erklärt.

Seit 1985 hat der 32-jährige vier Gedichtbände veröffentlicht (darunter das 1992 erschienene Buch mit dem supersmarten Titel Rebel with-out applause), zwei Theaterstücke erarbeitet, mit Ex-Specials-Keyboarder Jerry Dammers und Working Week Platten aufgenommen und ist auch auf Leftfields neuemAlbum wieder präsent. Wer so viel macht, und dabei nicht nur von Bleichgesichtern wie John Lydon und der BBC geschätzt wird, an dem muss schon was dran sein. Alltagsrassismen und fröhliche Gewaltfantasien fließen in Sissays Gedichten ebenso rhythmisch und frei aufs Papier wie Buchstabenspiele und Introspektionen. Vom limerickesken Rüttelreimgedicht bis zu groovenden Klangassoziationen entlockt er seinem riesigen Vokabular viel sexy Sinn: „Why is it you say you are colour blind / when you see me?“

Auf der anderen Seite des Atlantiks bildet das Nuyorican Poets Café im East Village so etwas wie das Epizentrum der dortigen schwarzen Lyrik-Szene, und die erste Gewinnerin dessen begehrten Titel „Grand Slam Champion“ ist Dana Bryant. Die gelernte Schauspielerin, die ihre Inspirationen aus Jazz und HipHop, vor allem aber „aus den Werken schwarzer Frauen“ zieht, ist zuerst eine Performerin und hat durch ihre Auftritte in New York und London für Aufsehen gesorgt. Obwohl auch sie eine Platte mit illustren Gästen (PM Dawn, Zap Mama) und ein Buch vorweisen kann, bleibt ihre Losung: „Give me your left ear and let me sing it to you.“

Das kann man ihr – und Lemn Sissay, mit dem sie heute im Mojo gastiert – einen Abend lang leihen. Denn Jazz ist manchmal auch eine Zunge in deinem Ohr, wie schon die Last Poets wussten.

heute, Mojo Club, 21 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen