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Briten am Rande atomarer Katastrophe

■ Britische Atomwaffenfabrik Aldermaston hatte über 100 Zwischenfälle – geheimer Bericht: Viele waren hochgefährlich

Dublin (taz) – Es ist Zufall, dass die britische Atomwaffenfabrik Aldermaston noch nicht in die Luft geflogen ist. Aus geheimen Unterlagen des privatisierten Atomic Weapons Establishment (AWE), das die Anlage betreibt, geht hervor, dass die Sicherheitsvorschriften allein in diesem Jahr mehr als 100-mal verletzt worden sind. Die Papiere sind dem Observer zugespielt worden.

In Aldermaston, im Zweiten Weltkrieg ein Flugplatz, werden seit 1951 Atomsprengköpfe unterirdisch zusammengebaut. Seitdem schweben die 250.000 Menschen im benachbarten Reading in ständiger Gefahr, und selbst London, keine 80 Kilometer entfernt, ist keineswegs sicher. Die Verletzung der Sicherheitsbestimmungen wurde stets geheimgehalten – ausgerechnet aus Gründen der „nationalen Sicherheit“. Der gefährlichste Fall hatte sich im September 1993 ereignet, als Späne hoch angereicherten Urans in einem Öltank unter einer Drehbank durch Zufall gefunden wurden, weil der Tank leckte. Eine hochgefährliche Atomreaktion konnte nur mit gewaltigem Aufwand und Glück verhindert werden.

Bereits 1978 wurden bei zwölf Arbeitern Plutonium in den Lungen festgestellt. Die folgende Untersuchung ließ kein gutes Haar an den Sicherheitsvorkehrungen, im Bericht wurden 73 Maßnahmen empfohlen – der Bericht wurde allerdings nie veröffentlicht. Greenpeace hat vor sechs Jahren eine eigene Untersuchung vorgenommen. Danach wurden seit Inbetriebnahme der Anlage fast 100 Arbeiter verletzt, verseucht oder getötet. 252-mal gab es Brände, Explosionen oder radioaktive Lecks.

Die Stadtverwaltung von Reading ging der Sache nach und fand heraus, dass die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern in Reading doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt. Die Stadträte forderten eine öffentliche Untersuchung. Stattdessen privatisierten die Tories die unfallträchtige Anlage. Aldermaston ist seitdem nicht sicherer geworden: Im Januar 1999 musste das Dach eines Schuppens, in dem hochexplosives Material lagerte, abgerissen werden, weil es aus gepresstem Stroh und Papier bestand; im März wurden erhöhte Plutoniumwerte außerhalb des Geländes gemessen, aber nicht gemeldet; im April fand man hochexplosives Material in einem Behälter, der als „leer“ beschriftet war; im selben Monat war die Schutzvorrichtung vor Blitzeinschlag abgeschaltet, die Sicherungen fehlten; im Mai wurden zwei Arbeiter versehentlich in einen Raum eingeschlossen, als nebenan eine Laserkanone abgefeuert werden sollte; und im vorigen Monat löste ein Fotograf fast eine Explosion aus, als er mit seinem Metallstativ einen Raum mit hochexplosivem Material betrat. Darüber hinaus versagten bei einem Stromausfall die Notaggregate, Plutoniumbehälter wurden verwechselt, untaugliche Feuerlöscher nicht ausgewechselt und die Sicherheitsregeln reihenweise missachtet.

William Peden von der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) sagte: „Es ist jetzt erschreckend deutlich, dass Aldermaston unsicher ist. Die Produktion muss sofort eingestellt werden. Wir benötigen dringend eine unabhängige öffentliche Untersuchung.“ Der Atomexperte John Large sagte: „Einige dieser Zwischenfälle sind verblüffend und sehr besorgniserregend. Abgesehen von den höchst gefährlichen Missachtungen der Sicherheitsvorschriften gibt es Anzeichen, dass Aldermaston im Notfall völlig überfordert wäre.“ John Crofts, der für die Sicherheit in Aldermaston verantwortlich ist, bestätigte die Zwischenfälle, spielte ihre Bedeutung aber herunter: „Wir nehmen die Fälle zwar ernst, aber keiner von ihnen stellte irgendeine Gefahr für die Öffentlichkeit dar.“ Der Informant des Observer, ein leitender Angestellter in Aldermaston, sagte dagegen, das Management sei nur profitorientiert, die Arbeiter desinteressiert und schlecht ausgebildet. Bisher habe man Glück gehabt. Ralf Sotschek

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