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Die Angst der Parteien vor dem „entfesselten“ Volk

■ Warum Bremen beim Thema Volksbegehren eigentlich kämpferisch werden müsste, erklärt Ralph Kampwirth mit der Geschichte der hanseatischen Bürgerbeteiligung

Der Termin steht seit letzter Woche fest: am 20. Dezember berät der Staatsgerichtshof in Bremen, ob das Volksbegehren „Mehr Demokratie in Bremen“ doch noch zugelassen wird. Damit sollten die Volksbegehren in Bremen erleichtert werden. Der Bremer Senat hat beantragt, die Initiative abzulehnen. „Mehr Demokratie“-Sprecher Ralph Kampwirth beschreibt in seinem Essay die historische Tradition der bürgerlichen Mitbestimmung in Bremen – und was daraus geworden ist.

Die direkte Demokratie hat in Bremen, inspiriert durch das schweizerische Vorbild, eine durchaus bemerkenswerte Tradition. Schon in der Revolutionsverfassung von 1849 tauchen – ein Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte – Elemente unmittelbarer Volksbeteiligung auf: „Können der Senat und die Bürgerschaft bei Ausübung ihrer gemeinschaftlichen Wirksamkeit hinsichtlich der Zweckmäßigkeit einer das öffentliche Wohl betreffenden Maßregel zu einem übereinstimmenden Beschlusse nicht gelangen, so wird dieser Gegenstand ... an die Gesammtheit der Staatsbürger zur Entscheidung verwiesen.“ Ganz im Geiste der Weimarer Demokratie sieht die Landesverfassung von 1920 erstmals basisinitiierte Gesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheid vor. Bei Differenzen zwischen Bürgerschaft und Senat kann ein Referendum eingeleitet werden, zudem ermöglicht der Verfassungsgeber die Parlamentsauflösung durch Volksentscheid. Für gültige Abstimmungen ist eine Mindestbeteiligung von der Hälfte aller Wahlberechtigten vorgeschrieben. Nur ein Volksbegehren ist in dieser Zeit zu verzeichnen, als die KPD 1932 versuchte, die Auflösung der Bürgerschaft herbeizuführen. Sie scheiterte mit knapp zwei Prozent jedoch deutlich an der hohen Unterschriftenhürde von einem Fünftel der Stimmberechtigten. Bereits 1921 hatte der konservative Senat in einer innenpolitischen Krisensitutation die Vertrauensfrage gestellt – und deutlich für sich entschieden. Im Rahmen der Verfassungsgebung knüpft man 1947 an die Regelungen der Weimarer Zeit an. Neben dem Verfassungsreferendum und der Möglichkeit des Parlaments, das Volk in Sachfragen an die Urnen zu rufen, wird die Volks-gesetzgebung eingeführt: Für Volksbegehren gilt eine Unterschriftenhürde von 20 Prozent der Stimmberechtigten. Für einen gültigen Volksentscheid ist die Beteiligung von mindestens der Hälfte der Stimmberechtigten vorgeschrieben. Verfassungsänderungen aufgrund von Volksbegehren bedürfen der Ja-Stimmen von mindestens der Hälfte der Stimmberechtigten. Ausgeschlossen sind Volksentscheide über den Haushaltsplan, Dienstbezüge, Steuern, Abgaben und Gebühren.

1947 werden unüberwindbare Hürden für das Volk aufgetürmt

Damit werden – wie in Weimar – nahezu unüberwindbare Hürden für den Volksgesetzgeber errichtet. Schon im ersten Volksentscheid vom 16. Oktober 1947 zeigt sich die mangelnde Praktikabilität der Regelungen. Zwar wird die neue Landesverfassung mit 72,4 Prozent von einer deutlichen Mehrheit angenommen. Das 50prozentige Zustimmungsquorum, daß man für Verfassungsänderungen durch Volksbegehren aufstellt, wird mit einem Ja-Anteil von „nur“ 45,1 Prozent aller Stimmberechtigten allerdings verfehlt. Wohlweislich galt für dieses Referendum jedoch kein Quorum. Die Landesverfassung kann ungeachtet dieses augenfälligen Widerspruchs in Kraft treten. In einem zweiten Volksentscheid nimmt das Volk an diesem Tag zudem noch mit knapper Mehrheit einen umstrittenen Mitbestimmungsartikel an. Danach herrscht für lange Zeit Funkstille auf dem direktdemokratischen Kanal. Die Politik meint es offenbar nicht sonderlich ernst mit der Bürgerbeteiligung. Erst 22 Jahre (!) nach der Verankerung des Volksentscheids verabschiedet das Parlament 1969 das erforderliche Ausführungsgesetz. (....) Erst 1986 – fast vierzig Jahre nach Verabschiedung der Landesverfassung – wird das erste Volksbegehren beantragt. Die Initiatoren wollen die Zusammenlegung und Schließung von Schulen rückgängig machen. Der Antrag scheitert aus formalen Gründen vor dem Staatsgerichtshof.

Nur schwache Reformen im Zuge der Verfassungsrevision

Schließlich hat die Politik 1994 ein – allerdings recht verhaltenes – Einsehen. Auf dem Hintergrund der direktdemokratischen Reformbewegung in den anderen Bundesländern und „im Lichte dieser durch hohe Hürden nahezu leerlaufenden Einflußmöglichkeiten“ (Bericht des zuständigen Ausschusses) beschließt das Parlament folgende Änderungen: Die Unterschriftenhürde für Volksbegehren wird auf zehn Prozent gesenkt. Für Verfassungsänderungen bleibt es bei 20-Prozent. Neu eingeführt wird die Möglichkeit der Parlamentsauflösung durch Volks-begehren. Weiterhin werden Volksbegehren und Volksentscheid auch in der Stadtgemeinde Bremen installiert. Das Verfassungsreferendum wird abgeschafft. Die Verfassung von 1947 schreibt vor, daß jede Verfassungsänderung dem Volk vorzulegen ist – es sei denn, im Parlament herrscht Einstimmigkeit. (...) Für dieses Reformvorhaben greift das Verfassungsreferendum das erste und letzte Mal. In der Bürgerschaft kann trotz des parteiübergreifenden Konsenses zwischen SPD, CDU, Grünen und FDP keine Einstimmigkeit erzielt werden. Ein Abgeordneter der Grünen und die rechte DVU-Fraktion stimmen gegen das Änderungspaket. Am 16. Oktober 1994 kommt es somit zum dritten Volksentscheid der Nachkriegszeit. Die öffentliche Debatte im Vorfeld ist – nicht zuletzt aufgrund des großen Parteienkonsenses – lau. Nur eine Initiative prominenter Linker ruft zur Ablehnung der Reform auf. Sie kritisiert die Abschaffung des Verfassungsreferendums und bezeichnet die Abstimmung als „Selbstentmachtung des Volkes“, die auch durch die „vergleichsweise marginalen Verbesserungen der Bürgerbeteiligung“ kaum gemildert werde. Dennoch fällt das Votum der WählerInnen mit einem Ja-Stimmen Anteil von 76 Prozent deutlich aus. Aufgrund der zeitgleichen Bundestagswahl – kluge Regie der Landespolitik – liegt auch die Beteiligung bei guten 78,3 Prozent. Drei Jahre später nimmt die Bürgerschaft noch eine weitere Korrektur vor und ändert das 50prozentige Beteiligungsquorum beim Volksentscheid über einfache Gesetze in ein Zustimmungsquorum von 25 Prozent um.

Staatsgerichtshof beschneidet Volksrechte in zwei umstrittenen Urteilen

Ein Gutes hat die Reform allemal: Der Volksentscheid als politische Handlungsmöglichkeit ist nun stärker im Bewußtsein der Öffentlichkeit verankert. Im Frühjahr 1996 startet der Zentralelternbeirat gleich drei Initiativen für die Einstellung von mehr LehrerInnen, die Verbesserung der Raumsituation an den Schulen und die Sicherung der Lehr- und Lernmittelausstattung. Das Thema brennt den BremerInnen offenbar auf den Nägeln. Statt der geforderten 5.000 Eintragungen pro Antrag präsentieren die Eltern binnen weniger Wochen 84.500 Unterschriften für ihre Gesetzentwürfe. Prompt meldet der Senat Bedenken an. Die Elternvorschläge würden in die Haushaltssouveränität des Parlaments eingreifen. Diese Position wird vom Staatsgerichtshof bestätigt. Im Juni 1997 erklären die Richter die beiden Volksbegehren für mehr LehrerInnen und einen einklagbaren Mindestraumbedarf für unzulässig, weil sie jährliche Mehrkosten von 115 Millionen Mark für das Land bedeuten würden. Lediglich der Antrag zur Lernmittelfreiheit erhält grünes Licht. Mit seinem Urteil schränkt der Staatsgerichtshof die Themen für Initiativen aus der Bevölkerung deutlich ein – er „entkernt“ die Volksgesetzgebung. Alle Vorschläge, die sich finanziell „wesentlich“ auf den Landeshaushalt auswirken, d.h. Bürgerschaft und Senat zur Neugewichtung ihrer (finanz-) politischen Ziele zwingen, sind demnach unzulässig. Diese weite Auslegung des Ausschlußkriteriums „Haushhaltsplan“ (Art. 70 BremLV) wird auch in der juristischen Fachwelt kritisiert.

Daß der Teufel zudem noch im Detail steckt, zeigt sich dann für die leidgeprüften Eltern beim Volksbegehren „Lernmittelfreiheit“. Die dreimonatige Eintragungsfrist beginnt unmittelbar vor den Sommerferien. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Die Sammlung kommt erst nach den Ferien richtig in Schwung – zu spät. Statt der erforderlichen 51.000 Unterschriften (10 Prozent) kommen „nur“ 32.500 Eintragungen zusammen. Das erste zulässige Volksbegehren in Bremen scheitert damit an widrigen Umständen. Wie in vielen anderen Teilen der Republik ist aber auch im kleinsten Bundesland das direktdemokratische Feuer entfacht. Auf stadtbremischer Ebene lanciert der Mieterverein ein Bürgerbegehren gegen die Privatisierung städtischen Wohneigentums. Erneut macht der Senat den Haushaltsvorbehalt geltend, und wiederum erhält er vor dem Staatsgerichtshof recht. Immerhin ergeht das Urteil vom Mai 1998 nicht einstimmig. Zwei der sieben Richter halten die Initiative in einem Sondervotum für zulässig, weil sie sich lediglich indirekt auf den Etat auswirke.

Schere zwischen bürgerschaftlichem Engagement und unzureichendem Verfahren schädigt politische Kultur

Die Situation ist verfahren: Dem gewachsenen Interesse der BürgerInnen an mehr unmittelbarer Teilhabe steht ein direktdemokratisches Regelwerk mit schier unüberwindbaren Hürden gegenüber. Gepaart mit den Politikverboten seitens Senat und Justiz sind Frustration und Enttäuschung in der Bevölkerung unausweichlich – ein erheblicher Schaden für die politische Kultur zeichnet sich ab. Bissig kommentiert ein Lokalredakteur, bei solchen Hürden sollte man besser „konsequent sein und den Unsinn des Volksbegehrensgesetzes abschaffen“. Daß die Lösung auch in der entgegengesetzten Richtung liegen kann, zeigt das Volksbegehren „Mehr Demokratie in Bremen“. Mit einer umfassenden Reform der Landesverfassung soll endlich ein bürgerfreundliches Volksentscheidsgesetz geschaffen werden. Die Initiative präsentiert einen Gesetzentwurf nach bayerischem Vorbild, der auch internationale Erfahrungen berücksichtigt. Die Kernforderungen: Für Volksbegehren gilt eine Fünf-Prozent-Hürde wie für Parteien bei Wahlen, bei Verfassungsänderungen sind 10 Prozent erforderlich. Die Prozentwerte beziehen sich auf die Beteiligung bei der letzten Landtagswahl. Die Unterschriftenhürde wird damit auf etwa ein Drittel des bisherigen Niveaus gesenkt. Zwischen Landtag und Initiative können Kompromisse ausgehandelt werden. Beim Volksentscheid gilt das Mehrheitsprinzip, die Zustimmungsquoren entfallen. Das Finanztabu wird gestrichen. Künftig sind Voksentscheide über alle landespolitischen Themen möglich. Im Frühjahr 1998 sammelt die Initiative die Unterschriften für die Beantragung des Volksbegehrens, die Zahl der Unterstützer wächst rasch. Die Regierungskoalition aus SPD und CDU lehnt den Vorstoß ab – aber intern brodelt es. Die Junge Union und Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen (ASJ) scheren aus der Parteilinie aus und unterstützen Mehr Demokratie. Schon nach wenigen Wochen legt die SPD-Fraktion ein erstes, allerdings nur marginales Kompromißangebot vor..

Senat sieht Verletzung der Mehrheitsregel und des Haushaltsrechts

Doch der Landesregierung ist der Erfolg von Mehr Demokratie ein Dorn im Auge – die SenatorInnen rufen erneut den Staatsgerichtshof an. Die Begründung: Der Entwurf wolle die repräsentative zugunsten der direkten Demokratie aushebeln. Regierungschef Henning Scherf unterzeichnet eine Klageschrift, die das Bild eines „entfesselten“ Volkes entwirft – wenn es denn nach den von Mehr Demokratie vorgeschlagenen Spielregeln in die Politik eingreifen dürfe. Die zentralen Vorwürfe gegen „Mehr Demokratie in Bremen“ prägen auch die Debatte über die direkte Demokratie in den anderen Ländern: Der Entwurf verletze das Mehrheitsprinzip. Der Senat geht davon aus, daß dank der niedrigen Hürden von Mehr Demokratie Volksbegehren leicht zu qualifizieren und Abstimmungen ebenso einfach zu gewinnen wären. Diese Behauptung wird von der Praxis widerlegt. Nehmen wir das Beispiel Schweiz, wo die Hürden für den Volksgesetzgeber deutlich niedriger sind als im Antrag von Mehr Demokratie: Hier gelingt nur etwa einem von zwanzig eingeleiteten Volksbegehren ein unverfälschter Abstimmungserfolg. (Auch die Behauptung des Senats, das Volk würde bei der geforderten Streichung des Haushaltsvorbehalts unverantwortlich mit den Bremer Finanzen umgehen, läßt sich nicht halten. Die Erfahrungen aus der Schweiz und den USA lehren das Gegenteil: Je stärker das Volk an der Politik beteiligt wird, desto stabiler sind die öffentlichen Haushalte. Man könnte geradezu umgekehrt argumentieren: Eine funktionierende direkte Demokratie könnte mittelfristig dazu beitragen, die horrende Verschuldung des Landes Bremen abzubauen. Man reibt sich verwundert die Augen: Volksentscheids-Regelungen, die sich andernorts – z.B. in Bayern, in der Schweiz und in zahlreichen US-Bundesstaaten – jahrzehntelang bewährt haben, sollen in Bremen verfassungswidrig sein? Anders als in Bayern 1995 und in Hamburg 1998 soll es den Bremer Innen verwehrt bleiben, selbst durch eine „Volksabstimmung über die Volksabstimmung“ ihre Mitsprachrechte zu erweitern. Ist Bremen eine Demokratie zweiter Klasse?

Direkte Demokratie: wirksames Korrektiv oder leere Verfassungsformel?

Der Senat will den Status quo, der – politisch gewollt – die direkte Demokratie ins Leere laufen läßt, zum einzig verfassungsgemäßen Rahmen für die Regelung der Volksgesetzgebung erklären lassen. Man darf gespannt sein, wie der Staatsgerichtshof entscheidet. Allemal haben die obersten Juristen eine Richtungsentscheidung zu treffen, die auf die gesamte Republik ausstrahlen wird: Wird die direkte Demokratie mit Spielregeln, die sie zu einem wirksamen Korrektiv des parlamentarischen Betriebs werden lassen könnten, als eine politische Option bewahrt? Oder schiebt das Staatsrecht der Volksentscheidsbewegung einen kräftigen juristischen Riegel vor, der die direkte Demokratie entgegen dem Willen der Bevölkerung in ihrem Randdasein einsperrt?

Gekürzte Fassung aus: Hermann K. Heußner/O. Jung (Hg.): Mehr direkte Demokratie wagen! Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge. München: Olzog-Verlag 1999.

Ralph Kampwirth, Journalist, ist verantwortlicher Redakteur der „Zeitschrift für Direkte Demkratie“ und Sprecher des Volksbegehrens „Mehr Demokratie in Bremen“.

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