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Das gekreuzigte Kaninchen

Weihnachtliche Abenteuer in Lissabon, vorletzter Teil (3)

Am ersten Weihnachtstag entriegelte sich Lissabon; die Gasthäuser öffneten ihre Pforten. Vergessen war die nächtliche Glutamatvergiftung; nun ging es daran, die Stadt mit Nase und Zunge zu entdecken. In dieser Disziplin kann man getrost Vincent Klink den Vortritt lassen. Nüstern geöffnet und Lippen gestülpt, schob dieser gottvolle Mann los und schloss die Sinne auf. Es ging durch diverse Cafés, allesamt ganz alltägliche Süßspeisenparadiese; besonders als Insasse der Kuchenprovinz Berlin kann man allein deshalb schon neidisch werden auf die glücklichen Bewohner Lissabons.

Nachdem wir unser Schicksal ausgiebig in unsere Kaffeetassen hineingeweint hatten, wurde Herzhafteres angesteuert. Eine Kaninchenbraterei erweckte besonderes Entzücken – nicht nur durch die Düfte, die dieses Lokal großherzig verströmte, sondern auch durch starke visuelle Reize: Die Kaninchen auf dem Grill sahen allesamt aus wie der Gekreuzigte. Zehn, zwölf, fünfzehn Jesusse (oder sagt man Jesi?) lagen nebeneinander auf dem Grill wie eine rustikale Vorwegnahme der Pop Art Andy Warholscher Prägung, aber olfaktorisch dessen Campbell’s Tomato Soup himmelhoch überlegen.

In dieses Lokal ging es stracks hinein. Brot, Butter, Thunfisch- und Sardinenpasten und Vinho verde kamen auf den Tisch, und was die Köche getan hatten dem geringsten unter Jesu Brüdern, das hatten sie wohl getan. Der kannibalische Ursprung christlicher Weltanpinselung – mein Blut, mein Fleisch, gegeben für euch – wurde nicht als spröde Oblate visualisiert, sondern als gekreuzigtes Kaninchen. Die tragende Säule des christlichen Abendlands wurde beguckt, berochen, geschmeckt, wurde angefasst und durch Verzehr aus der Welt geschafft.

So kann die Jesus-Meise, eine arge Zivilisationskrankheit noch immer, behoben werden: einfach wegspachteln. Und in Form des gekreuzigten Kaninchens sorgt Jesus erstmals in seinem – selbst den aus purer Bosheit 123 Jahre alt gewordenen Ernst Jünger an Länge weit übertreffenden – Leben für sinnliche Genüsse. Wer hätte das gedacht? Olle Jesus selbst sicher nicht.

Dergestalt gestärkt an Körper, Seele und Geist, schritten wir munter aus zum Hafen, setzten mit der Fähre über den Tejo, kletterten in einen Autobus und ließen uns von der rasanten Fahrweise des portugiesischen Busfahrers beeindrucken. Denn der Portugiese hat nicht nur schöne Kacheln an der Wand – er kachelt auch selber gerne, was die Karre hergibt, und der Fußgänger als solcher gilt ihm nichts. Nirgends sonst in Europa gibt es so viele Fußgänger unter den Verkehrstoten wie in Portugal. Besser also, man sitzt im Bus und kann durch die Fenster beobachten, wie der Fahrer Fußgänger schon aus großer Entfernung anpeilt und dann Jagd auf sie macht. Doch läßt sich auch der portugiesische Fußgänger nicht ohne weiteres erlegen, sondern ist ein Meister in der Kunst des Wegspringens in letzter Sekunde.

So verging die Zeit wie im Fluge, bis wir den weihnachtlichen Strand Lissabons betraten, um ein Fischrestaurant aufzusuchen, in dem ein Wirt residierte, der wie der ältere Bruder des Sängers Demis Roussos aussah, sein brummendes Lokal allerdings nicht mit Eunuchengesang, sondern mit den Klängen einer Wersi-Orgel akustisch verschmierte. Seine Kellner, freundlich bollerig gebaute ältere Herren mit desillusionierten Gesichtszügen, verfügten aber über die Gabe, in Seezungen zu sprechen, was den teppichartig aussehenden Wirt samt seiner Musik rasch vergessen machte.

Wiglaf Droste (Lesen Sie morgen Teil 4 und Schluss: Auf der Flucht vor Dr. Fado – Der Atlantik ist ein blauer Bruder – Nenn ihn niemals ungestraft einen ungewaschenen Eselspimmel!)

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