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Lieber die Alten loswerden als auf der Straße stehen

Kanzlers Kompromisspapier schließt die Rente mit 60 nicht aus. Aber das reicht den meisten Metallern an der Basis nicht: Sie glauben weiter fest an das Modell Rente mit 60

Die IG Metall ist optimistisch, die Rente mit 60 in ihrer Reinform doch noch durchbringen zu können. In den Betrieben herrscht „Aufbruchstimmung“.

Berlin (taz) – Die Sache mit der Rente mit 60 sieht Thomas Thiel pragmatisch. Jeder, der so lange gearbeitet hat, müsste gehen, sofern er den jüngeren Kollegen damit den Arbeitsplatz auch nur erhalten könnte. „Notfalls“, sagt Thiel, „würde ich da auch ein bisschen Druck machen.“

Wenn der gelernte Schlosser so spricht, klingt er keineswegs nur kaltschnäuzig. Thiel (32) hat Angst um seinen Arbeitsplatz. Noch darf er beim Berliner U-Bahn-Bauer ADtranz die Sitzkissen zusammenkleben. Wie lange er den Job noch hat, weiß er nicht. Die Werksleitung will die Belegschaft am Standort Berlin-Pankow im Februar von 300 auf 210 zusammenschrumpfen. Etwa 100 sind im kritischen Alter ab 50.

Thiels Rechnung ist einfach: Wenn diejenigen, denen es möglich wäre, in den vorzeitigen Ruhestand mit 55 gingen, wäre sein Arbeitsplatz etwas sicherer. Vor einem hat er Horror: „Ich steh auf der Straße und seh mein Leben vorbeiziehen“. Dann lieber die Alten loswerden. Die mit ihren Gichtanfällen. Damit nicht auch noch der frühe Abschied schmerzt, sollen sie die Rentenabschläge erstattet bekommen. In diesen Fonds würde Thiel gern ein halbes Prozent seines Lohns einzahlen – wenn sein Arbeitgeber die gleiche Summe beisteuern würde.

Das gestern vorgestellte Kompromisspapier von Bundeskanzler Schröder sieht die Rente mit 60 nicht ausdrücklich vor, es schließt sie nur nicht aus. So schwierig es für die Gewerkschaft auch sein mag, das Modell durchzukriegen, an der Basis hat man die Idee liebgewonnen. „Die Regelung ist wichtig, um jungen Leuten Arbeit zu geben“, sagt Detlef Muchow, Vorsitzender des Betriebsrats bei ADtranz. Dass die Frührente die Rentenkassen belastet und den Jüngeren kaum Chancen auf eine gute Alterssicherung lässt, mag der Metaller nicht gelten lassen. Mit der staatlich finanzierten Frührente unter dem vormaligen Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) hätten die Arbeitgeber ihre Betriebe rationalisiert und sich schließlich „auf Kosten der Allgemeinheit saniert“. Jetzt sollen also auch die älteren Arbeitnehmer mal in die Kasse greifen dürfen.

Dass durch die Rente mit 60 aller Voraussicht nach kaum ein Arbeitsplatz neu geschaffen wird, kontert Muchow, seit 36 Jahren Gewerkschaftskollege, mit der Stärke seiner IG Metall. „Wenn man die Wiederbesetzung der frei werdenden Arbeitsplätze will, müssen wir Druck aufbauen, dann kriegen wir das hin.“

Auch in der Verwaltungsstelle Hattingen weiß man sich mit der Rente mit 60 auf dem richtigen Weg. Nach der neuen IG-Metall-Sprachregelung redet Bernd Lauenroth von der „Beschäftigungsbrücke“, die das Bündnis für Arbeit errichten soll. Seinen Optimismus die Rente mit 60 in ihrer Reinform doch noch durchbringen zu können, schöpft Lauenroth aus seinen Betriebsbesuchen. Wenn er durch die 50 meist klein- und mittelständischen Unternehmen seines nordrhein-westfälischen Verwaltungssprengels tourt, weht ihn eine „Aufbruchstimmung“ an.

Bei der Diskussion um den vorzeitigen Abgang aus dem Job gehe es nicht nur um Prozentpunkte bei der Rente, um Arbeitsplätze, Kosten und Tarifvereinbarungen. „Es geht auch um ein gesellschaftlichers Reformprojekt“, sagt der IG-Metall-Sekretär: „Wir tun endlich etwas gegen die Arbeitslosigkeit.“ Er hat es ausgerechnet: Nach dem alten Zwickel-Modell würde im Schnitt jeder Facharbeiter 20 Mark im Monat in den Tariffonds zahlen. „Dieser Preis ist fair, weil jeder sagen kann: Ich helfe mit, eine neue Stelle zu schaffen.“

Lauenburg hält nichts von erweiterter Altersteilzeit oder gleitendem Ausstieg. Ihm sind „nachvollziehbare Strukturen und Ansprüche des Einzelnen wichtig“. Jeder Kollege im Betrieb soll das Recht haben, mit 60 aufhören zu können – egal ob der Arbeitgeber dies befürwortet oder nicht.

Für Lauenroth verbirgt sich beim Streit um die Rente eine politische Grundsatzfrage: Entweder es gelingt in absehbarer Zeit die Arbeitslosenrate herunter zu schrauben oder „die Bundesrepublik kann sich eine politische Bankrotterklärung ausstellen“. Dass es nicht so weit kommt, dafür will er kämpfen. Wenn die Arbeitgeber nicht mitziehen, gibt sich das Fußvolk in der Tarifrunde 2000 eben nicht mehr bescheiden. Ein hoher Abschluss, etwa um die 4,5 Prozent dürften es dann schon werden. „Die Einsatzbereitschaft der Kollegen für die Tarifrunde ist gut“, sagt Lauenburg.

Nicht alle Metaller teilen den Glauben an die unbesiegbare Kraft der Gewerkschaft. Uwe Hück, Betriebsratsvorsitzender bei Porsche, nennt nur zwei Schlagworte: unbezahlbar, nicht streikfähig. Hück sagt: „Die Spitze unserer Gewerkschaft ist größenwahnsinnig geworden.“ Bei vorzeitigem Berufsausstieg gehe es potenziell um 60 Millionen Arbeitnehmer, „da können sich doch nicht zwei Millionen Metaller anmaßen, eine Entscheidung zu treffen“.

Ende November hat Hück lange mit Klaus Zwickel telefoniert. Das Gespräch drehte sich um den Tarifabschluss zur Altersteilzeit von 1997. Damals hatte Zwickel nur erreicht, dass 55-Jährige im Rahmen der Altersteilzeit 82 Prozent ihres vorherigen Nettolohns erhalten. Nach der bisherigen Regelung müssen die Arbeitgeber die Rentenabschläge von 18 Prozent nicht kompensieren. Diese Regelung, sagt Hück, sei für die Beschäftigten unzumutbar. Zwickel attestiert er schlechtes Verhandlungsgeschick. Mit seiner Idee der Rente mit 60 habe der den miesen Abschluss nachbessern wollen – außerhalb der Tarifrunde, quasi auf der nächst höheren Ebene und bundesweit. „Das ist so“, sagt Hück, „als wenn jemand die deutsche Boxmeisterschaft verliert und trotzdem gegen den Weltmeister antreten will.“ Mit welchem Ergebnis? Die IG Metall sprach gestern vom „grünen Licht für die Rente mit 60“. Das ist oft so beim Boxen: Der Kampfausgang ist umstritten. Annette Rogalla

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