: Moskau vor dem Offenbarungseid
Die Russen führen nicht nur gegen die Tschetschenen Krieg. Jetzt bekämpfen sich auch noch Vertreter verschiedener Moskauer Ministerien ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Die russischen Streitkräfte in Grosny beißen sich nicht nur am tschetschenischen Gegner, der keinen Zollbreit zurückweichen will, die Zähne aus. Landgewinne messen russische Truppen schon seit Tagen nur noch in Zentimetern. Stattdessen liefern sich inzwischen Vertreter des Verteidigungsministeriums und Generäle der privilegierten Truppen des Innenministeriums ein – vorläufig noch – verbales Shootout.
Im Zusammenhang mit dem ungeklärten Tod des Armeegenerals Michail Malofejew, der beim Einsatz in vorderster Frontlinie letzte Woche in Grosny vermisst gemeldet wurde, ist es zwischen den notorisch rivalisierenden Waffengattungen zu einem offenen Konflikt gekommen. Meldungen der tschetschenischen Rebellen, sie hätten den General gefangengenommen, treffen offensichtlich nicht zu. Die Tageszeitung Iswestija berichtete unterdessen, der General der Armee sei bei einem Einsatz gefallen und von einer einstürzenden Wand begraben worden. Das delikate Detail: Der Armeeangehöriger Malofejew kommandierte eine Einheit des Innenministeriums im Norden Grosnys.
Nachdem die russischen Streitkräfte tagelang nicht mehr vorgerückt seien, hätten sich ältere Offiziere einschalten müssen, „um den Kampfgeist der Truppe zu heben“. Die Iswestija bezeichnet den Vorfall nicht offen als eine Befehlsverweigerung. Dennoch sieht es danach aus, als hätte sich das Bataillon des Innenministeriums geweigert, in den Nahkampf zu ziehen. Offensichtlich gelang es Malofejew nicht, die Truppe umzustimmen. Am Wochenende fand man die Leiche des Generals mit einem Kopfschuss und zwei Schüssen in den Rücken unter den Trümmern der eingestürzten Wand, wo ihn seine persönlichen Leibwächter aus ungeklärten Gründen zurückließen.
Die Armee beschuldigt das Innenministerium, für den Tod Malofejews verantwortlich zu sein. Daraufhin meldete sich Arkadi Baskajew, General des Innern, vorgestern im Sender Echo Moskau zu Wort. Unter den bisher üblichen Geheimhaltungspraktiken ein bemerkenswerter Vorgang. Er bezichtigte das Verteidigungsministerium, das die gesamte Informationspolitik des Kaukasusfeldzuges kontrolliert, „die tatsächlichen Gefallenenstatistiken zu verheimlichen“ und nach unten zu korrigieren. Überdies seien die Kräfte der Armee in Grosny ausgezehrt und bräuchten dringend einer Truppenauffrischung. Bereits am Sonnabend hatte ein General des Innenministeriums vor laufender Kamera einen Vorfall in den Bergen Südtschetscheniens geschildert, bei dem 45 Soldaten gefallen waren. Er war bestens im Bilde, da sein Sohn in dem Hinterhalt verletzt worden war. Das Informationszentrum der Armee in Mosdok reagierte sofort und drohte dem privaten Fernsehsender NTW, ihm die Arbeitserlaubnis in der Krisenregion zu entziehen.
Einen vorübergehenden Höhepunkt erreichte der Skandal, indem der erst kürzlich ernannte Kommandeur der Truppen des Innenministeriums und Vertraute des russischen Innenministers Owtschinnikow seines Postens enthoben und durch General Tichomirow ersetzt wurde. Tichomirow kommandierte die russischen Truppen im letzten Jahr des ersten Tschetschenienkrieges, der mit einer Niederlage für die Russen endete. Er hat den Ruf eines Tschetschenenfressers.
Wieder einmal steht Moskau vor einem kaukasischen Offenbarungseid. Inzwischen lassen sich die Fehlschläge nicht mehr vertuschen. Am Wochenende brachte der Sender NTW Berichte von der zentralen Verladestelle der Gefallenen in Rostow am Don. Fünfzig bis sechzig Zinksärge werden seit dem Sturm auf Grosny Anfang Januar jede Nacht heimlich abtransportiert. Demnach müssten schon über 3.000 Soldaten ihr Leben gelassen haben.
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