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Menschenhandel im Namen Gottes

Militante Islamisten terrorisieren die Bevölkerung im Nordkaukasus. Der Krieg Russlands gegen Tschetschenien passt ihnen dabei gut ins Konzept. Das Geschäft mit Geiselnahmen floriert

Die religiösen Fanatiker schnitten den Geiseln Extremitäten ab, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen

Nasran (taz) – Neben den schludrig zu einem Verschlag aufgeschichteten Betonblöcken, hinter denen Wachposten vor Wetter und unliebsamen Besuchern Schutz suchen, liegt eine umzäunte Grabstelle. Vier Fotos und Namenszüge sind in den Stein gelassen. Um den gusseisernen Zaun haben Freunde und Verwandte weiße Tücher gebunden, eine Geste des Gedenkens nach islamischem Brauch.

Am 9. Mai 1999 starben kurz vor Galaschki im kaukasischen Vorgebirge Inguschetiens vier Soldaten des Innenministeriums, einer kam mit schweren Verletzungen davon. Issa hätte die Geschichte nicht erzählt, wäre er nicht gefragt worden. Der junge Mann im Kampfanzug und schussbereiter Kalschnikow ist unser Personenschutz. Die Toten waren seine Kollegen. Issa verliert nicht viele Worte: „Im Kaukasus klären wir das untereinander“, meint er, „wir hassen deswegen nicht alle Tschetschenen“.

Seit dem Ende des ersten Tschetschenienkrieges häuften sich Überfälle auf Wachposten in der Nachbarrepublik. Allein 1998 starben in einem Monat 18, im letzten Jahr kamen 12 Polizisten ums Leben.

Am 9. Mai gegen fünf Uhr in der Früh pirschte sich eine Gruppe von 30 Wahhabiten an den Straßenposten heran. Sie waren über die bewaldeten Hügel aus dem acht Kilometer entfernten Tschetschenien gekommen. Auftrag: Geiselnahme. Das Unternehmen misslang. Einer der Posten kochte Tee und hatte die Eindringlinge bemerkt. Beim anschließenden Schusswechsel wurde auch ein Geiselnehmer tödlich verwundet. Seine Leiche versteckten die Kidnapper im Wald. Wohl um sie später abzuholen. Die Miliz Inguschetiens kam ihnen zuvor. Nach zwei Wochen gab die Polizei die Leiche an Mittelsmänner der Familie, die in Urus Martan in Tschetschenien lebte, zurück. Die kleine Stadt im Südwesten der sezessionistischen Republik hat seit Ende des ersten Kaukasuskrieges einen zweifelhaften Ruhm erlangt. Anhänger der islamischen Sekte der Wahhabiten errichteten dort ihr Hauptquartier und riefen bald einen „Gottesstaat“ aus.

„Psychoterror herrschte“, anders ließe sich das nicht beschreiben, meint Tamara Sachidowa aus Urus Martan, die seit einigen Wochen in einem Flüchtlingslager in Inguschetien lebt. „Mädchen im Vorschulalter mussten Schleier tragen, nach dem Vorbild der afghanischen Taliban, der Tschador reichte nicht.“ Das Apartheitsprinzip gegenüber Frauen machte selbst vor den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht halt.

Was indes viel schlimmer gewesen sei: Jugendliche wurden einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen und unter Drogen gesetzt. Ein 15-jähriger Nachbarssohn, erzählen die Flüchtlinge, hätte sich von seiner Mutter lächelnd verabschiedet: „Ich gehe nach Dagestan, um dort zu sterben, und du wirst die glücklichste Mutter sein.“ Aus Angst hat keiner Widerstand geleistet, „daher haben wir uns mitschuldig gemacht“, sagt eine Mutter.

Die Verfechter des Gottesregimes waren unterdessen keine einheimischen Bürger. Die meisten von ihnen stammten aus Dagestan, dem nahen Osten und arabischen Ländern, behaupten die Flüchtlinge. Eingesessene Clans arrangierten sich indes. „Für ihre kriminellen Machenschaften haben sie die Religion missbraucht“, sagt Tamara. Sieben Brüder der Familie Achmadow kontrollierten Urus Martan. Die Sippe ist der Staatsanwaltschaft Inguschetiens bestens bekannt, unter ihrer Kuratel entwickelte sich der Menschenhandel in Urus Martan zu einem lukrativen Industriezweig.

In eigens ausgebauten Kellern und Verließen saßen vorübergehend hunderte Geiseln. Unter ihnen auch die englischen Missionare Jon James und Camilla Carr, Jelzins persönlicher Vertreter in Grosny Wlassow und vier Mitarbeiter einer englischen Kommunikationsfirma, deren enthauptete Leiber später gefunden wurden.

Den Einwohnern blieb der Menschenhandel nicht verborgen, doch wagte keiner, etwas dagegen zu unternehmen. „Wer in Ungnade gefallen war oder auch nur getrunken hatte, wurde öffentlich ausgepeitscht.“ Manchmal sei die Strafaktion im lokalen Fernsehen live übertragen worden.

Für die ersten Opfer, russische Fernsehjournalisten und hohe Beamte, wurden Auslösesummen von mehreren Millionen Dollar gezahlt. Nachahmer fanden sich daher schnell. Bald stiegen auch Kommandeure und Warlords, die auf eine religiöse Drapierung verzichteten, ins Geschäft ein. Ihnen wird nachgesagt, mit den Gefangenen nicht so bestialisch umzuspringen wie die religiösen Fanatiker, die den Geiseln Extremitäten abschnitten, um Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Staatsanwaltschaft in Inguschetien ist bestens informiert, wo in der Nachbarrepublik welcher Kommandeur Hoheitsrechte reklamiert. Eingreifen konnte sie aber bisher nicht.

Einer der Kommandeure, die mit der Ware Mensch en gros handeln, ist Suliman Jamadajew. Er hat sich mit dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, der dem Unwesen – das tschetschenische Gewohnheitsrecht „adat“ duldet Menschenraub unter keinen Umständen – machtlos zuschaute, überworfen. Inzwischen verwaltet Jamadajew, der die Seite gewechselt hat, im Auftrag der russischen Generalität die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, Gudermes. Straffreiheit ist ihm gewiss.

Der Einfluss krimineller Strukturen und radikaler islamischer Ideologen hat die jahrhundertealte tschetschenische Rechtspraxis außer Kraft gesetzt. Der erste Kaukasuskrieg kannte keine Geiselnahmen. Im Gegenteil: Gefangene russische Soldaten wurden ihren verzweifelten Müttern ohne Bedingungen zurückgegeben.

Berichte der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bestätigen die eklatante Missachtung jeglicher sittlichen Werte auch auf Seiten der Freischärler, die russische Angriffe provozieren, um Verluste der Zivilbevölkerung in die Höhe zu treiben oder sie als lebende Schutzschilde zu missbrauchen. Selbst Dorfälteste, Autoritäten der tschetschenischen Gesellschaft, sind gegen Übergriffe der Rebellen nicht gefeit.

Klaus-Helge Donath

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