: Erst Qual, dann Scham
Im Panorama: Rob Epsteins/Jeffrey Friedmans „Paragraph 175“
Pierre Seel will nicht erzählen. „Glauben Sie, dass ich darüber reden kann?“, fährt er sein Gegenüber an. Dann erzählt er doch, in Fragmenten, widerwillig: wie sein Körper an den Folgen der Misshandlungen leidet, wie die Nazis seinen Gefährten umgebracht haben. Der heute 77-jährige Mann aus dem Elsass wurde in das Lager Schirmeck verschleppt, weil ihn die Nazis als homosexuell einstuften. „Wer Homosexualität ausübt, verweigert Deutschland die Kinder, die er ihm schuldet“, soll Himmler gesagt haben.
Pierre Seel ist einer der Zeitzeugen, die die US-amerikanischen Filmemacher Rob Epstein und Jeffrey Friedman für ihre Dokumentation „Paragraph 175“ befragt haben. Dieser Paragraf trat 1871 in Kraft. Sexuelle Kontakte unter Männern ahndete er mit Gefängnisstrafen und dem Verlust der bürgerlichen Rechte. In der Weimarer Republik kam er zwar selten zur Anwendung, und fast gelang es einer Allianz rund um den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, die Abschaffung zu erwirken. Doch die Nazis verschärften den Paragrafen, kaum dass sie an der Macht waren. Lesbische Frauen galten ihnen als korrigierbar und blieben daher bis auf Ausnahmen von der Verfolgung verschont, schwule Männer nicht.
In der DDR war der Paragraf bis 1968 in Kraft, in Westdeutschland ein Jahr länger. Die Aussagen der alten Männer werden mit historischem Film- und Fotomaterial unterlegt und kontrastiert. Nicht alle tun sich so schwer mit dem Erzählen wie Pierre Seel. Der 1923 geborene Gad Beck erinnert sich lebhaft daran, wie er als Teenager seinen Sportlehrer verführte, der elf Jahre ältere Heinz Dörmer schwärmt von seiner Zeit als Pfadfinder, was Epstein und Friedman mit Bildern junger, schöner Körper in der freien Natur unterlegen. Es sind idyllische Aufnahmen, die den körnigen, verlangsamt ablaufenden Bildern fanatisierter Nazimassen gegenübergestellt werden. Annette Eick, die einzige Frau unter den Zeitzeugen, erzählt vom Berlin der 20er-Jahre und von der bewegten Lesbenszene. Dazu sieht man Aufnahmen von Marlene Dietrich, das Lichterflirren der Großstadtnacht und Pin-up-Girls in zärtlicher Umarmung. Die Flucht aus Deutschland, erzählt Eick, sei ihr nur um ein Haar geglückt. Besonders im ersten Drittel des Films springt die Dokumentation zu schnell von einem Interviewpartner zum nächsten, als dass Konzentration und Bündelung möglich wären. Und wenn Epstein und Friedman Material verwenden, das die Nazis einsetzten, vermögen sie nicht wirklich den Propagandaeffekt zu brechen.
Dennoch: „Paragraph 175“ hat zahlreiche starke Momente. Gegen Ende sagt einer der Männer, aus Scham habe er zeit seines Lebens kein Wort über die Jahre im KZ verloren. Ein anderer wurde auch in den 50er- und 60er-Jahren inhaftiert, auf der Grundlage des Paragrafen 175. Pierre Seel hat bislang umsonst um eine Entschädigung gekämpft. Cristina Nord„Paragraph 175“. Regie: Rob Epstein und Jeffrey Friedman. USA, 81 Min.; heute, 14.30 Uhr, International
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