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Mit Hölderlin in der indischen Eisenbahn

■ Zum zweiten Mal beschäftigen sich „die horen“ mit Indien. Statt Stimmen aus dem Land wirft Band 196 den Blick aus der Fremde

Vor zwei Jahren stellte die im kühlen Bremerhaven produzierte Vierteljahreszeitschrift „die horen“ in Band 188 Gegenwartsliteratur vor, die am anderen Ende des Globus und in anderen Sphären der Ästhetik beheimatet ist: im klimatisch wie politisch erhitzten Indien. In den ausnahmslos konventionell-linear erzählten Prosastücken ging es meist um sozial-politische Themen. Das Unverwechselbare und Private existierte dort eher selten. Das persönliche Schicksal war Beleg für das Allgemeine: die Unterdrückung der Frauen, den Miss-brauch der Religion zu Machtzwecken, die Defizite im demokratischen System und immer wieder eine niederschmetternde Armut, die dem Leser hie und da wütende Tränen aus dem Auge presste. Zusammengetragen wurde diese lesenswerte Anthologie von Martin Kämpchen, der sich nach einem Studium der Germanistik und Religionswissenschaft entschieden hatte, nicht nur zu lehren, sondern auch zu handeln. Seit 1973 arbeitet der 52-Jährige in Kalkutta, Madras und Westbengalen als Lehrer und Entwicklungshelfer. Die Erfahrungen mit der längst vertraut gewordenen Fremde hat er transformiert in Erzählungen und den Roman „Das Geheimnis des Flötenspielers“ (1999).

Für den aktuellen horen-Band Nr. 196 hat er zusammengetragen, wie sich Indien in den Werken seiner deutschen Kollegen widerspiegelt: So gut wie gar nicht. Da gibt es zwar das berühmte „Zunge zeigen“ (1988), in dem Günter Grass die Eindrücke eines fünfmonatigen Kalkutta-Aufenthalts in Sprache und Zeichnung dokumentierte. Doch dann kommt das große Schweigen. Null Indien bei den Deutschen, eigentlich unglaublich. Die ganze Sinnsuche der 68er-Generation nach dem großen Ohmmm mit Haschischpfeifchen im Schatten des Taj Mahal existiert in der deutschen Literatur nicht. Hippies können scheinbar nicht schreiben – oder wollen es nicht. Dass der horen-Band dann doch noch gefüllt werden konnte, und zwar reichlich, dafür ist eine regelrechte Indienreise-Welle nach 1910 verantwortlich. Die Liebe zu Indien ist allerdings älter, und zwar platonisch aus der Fremde, allerdings nicht unwidersprochen. Rühmte J.G. Herder Indien als „Wiege des Menschengeschlechts“ und Goldenes Zeitalter, so geiselte Hegel dies als Idealisierung des Rückschrittlichen. Diese Ambivalz des Exotischen zwischen Traum und Albtraum zieht sich auch durch die späteren Texte der schriftstellernden Indienfahrer. So beschreibt der 46-jährige Ulrich Holbein, einer der ganz wenigen zeitgenössischen Autoren des Bandes, den Horror einer Zugfahrt eklig-schweißtriefend wie ein Splatter-movie: „Durch die Gitterstäbe reckten sich Hände, mit und ohne Finger ... Armstümpfe mit extra hochgekrempelten Ärmeln ...“ Wie einst Levi-Strauss in den „Traurigen Tropen“ beamt er sich in der Fantasie in die Heimat zurück. „Dauerhaft angestarrt, zog ich mein Hölderlin-Reclamheft und Ohropax aus der Seitentasche. Mein Rücken rieb sich an den Holzrippen historischer Straßenbahnbänke wund; ich las den Satz: ,In der Tiefe von Asien soll ein Volk von seltener Trefflichkeit sein; dahin trieb mich meine Sehnsucht weiter.'“

Neben Holbein hat der Herausgeber viele Autoren aufgetrieben, an deren Namen sich selbst Germanistikstudenten eher dunkel erinnern: Rene Schickele, 1915-20 Herausgeber der wacker-pazifistischen Zeitschrift „Die weißen Blätter“, Melchior Lechter aus dem Stefan-George-Kreis, Arthur Holitscher, Simplizissimus-Redakteur. Schon bekannter der Expressionist Arno Holz oder Dadaist und Arzt Richard Hülsenbeck. Dem Band vorangestellt ist ein Zitat des Philosophen Hermann Keyserling (also nicht des Schriftstellers Eduard K.): „Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt.“ Eine Idee, die Marx schon etliche Zeit vorher ins Ökonomische übertrug: Wer den europäischen Kapitalismus begreifen will, muss in die Dritte Welt gehen. „Die tiefe Heuchelei und eingeborene Barbarei der bürgerlichen Kultur liegt offen vor unseren Augen, sowie wir uns von ihrer Heimat, wo sie sich respektabler Manieren befleißigt, den Kolonien zuwenden, in denen sie in ihrer ganzen Nacktheit auftritt. Die Bourgeoisie gibt sich als Beschützer des Eigentums. Aber hat je eine linke Partei solche Agrarrevolutionen hervorgerufen wie die in Bengalen, Madras, Bombay?“

Die Mehrzahl der Autoren interessiert sich allerdings weniger für solche Unerquicklichkeiten, sondern eher für den „überschwenglichen Farbenrausch“, ein Frauenauge „wie das der erschreckten Antilope“, die heroische Erscheinung des Nobelpreisträgers von 1913, Rabindranath Tagore, für Heilige, die „von heute auf morgen der Welt entsagen“, aber auch für die „Friedfertigkeit und den erschreckenden Fatalismus“ der Bevölkerung. bk

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