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■ Hunderttausende Österreicher protestieren gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Es war die größte politische Demonstration seit der Gründung der Zweiten Republik. Von der Geburtsstunde des neuen Österreichs und vom Sieg der Zivilgesellschaft ist nun die RedeVon Haider aus dem Schlaf gerissen

Vom Veranstaltungspodium, das vor der Frontseite der Hofburg aufgebaut ist, tönt die flehentliche Bitte: „Ziehts a weng nach hinten. Vor dem Platz warten noch 50.000 Menschen, und wir hätten so gern, dass wir 250.000 werden.“

Die Bitte wird erhört. Und als schließlich triumphal die Zahl 300.000 aus dem Lautsprecher donnert, der schwarz wie die Kasba auf dem Wiener Heldenplatz hochragt, ist klar: Das ist die größte politische Demonstration der Zweiten Republik, veranstaltet von denen, die die Dritte, die Haidersche Republik, verhindern wollen. Nicht dass es nur Adolf Hiltler allein vermocht hätte, das Areal des Heldenplatzes zu füllen. Aber diese Bilder werden das immer noch gegenwärtige Schreckensbild der den Führer bejubelnden Massen überlagern. Das demokratische Österreich hat seine neue symbolische Ikone gefunden.

Viel kann man nicht sehen an diesem Abend, aber was sich im Licht der Scheinwerfer der Straßenlampen und der Kerzen zeigt, ist Lichtjahre entfernt von der hingerissenen, in der Begeisterung zusammengeschweißten gesichtslosen Menschenmenge des Jahres 1938. Kaum vorfabrizierte Einheitsplakate, dafür viel Selbstgemachtes, vom politisch anfechtbaren, aber ehrlichen Herzens fabrizierten „Haider is Hitler“ über die klassisch-holprigen Gewerkschaftsparolen à la „Alt, unversorgt und krank, aber der Staat ist schlank“ bis hin zum stolzen „Wir sind Europa“. Woher haben die Leute bloß in der Eile die vielen Europafahnen hergenommen? Sonderlieferung aus Brüssel?

Unmassen junger Leute, ausgestattet mit Trillerpfeifen, stark durchsetzt von den 68er-Graubärten. Es ertönen weder rhythmisches Klatschen noch stereotyp wiederholte Sprechchöre. Mit einer Ausnahme: Wann immer in den zahllosen Reden das Wort „Widerstand“ auftaucht, wird es aufgenommen und hallt wider bis zum letzten Winkel des Platzes.

Der Beifall für die Redner ist abgewogen, wohl dosiert. Wer immer auch vom Ende des langen Winterschlafs spricht, wer die Selbstorganisation in den Mittelpunkt rückt, wer mahnt, mit dieser Kundgebung sei es nicht getan, kann mit massenhafter Zustimmung rechnen. Dieser Abend gehört nicht den Großorganisationen, nicht den politischen Parteien. Ein altes, längst abgenutzt geglaubtes Schlagwort trifft die Stimmungslage: Zivilgesellschaft.

Zivilgesellschaft als Handlungsmaxime, also selbstverantwortlich, selbstbestimmt in Gruppen und Initiativen. Und Zivilgesellschaft als Ziel: ein europäisches, weltoffenes Bürger-Österreich. Die stärkste Oppositionspartei, die Sozialisten – also eine der beiden Hauptverursacher der schwarz-roten, Haiders Aufstieg begünstigenden Sklerose –, wird zwar geschont. Als aber ein Schauspieler mit rollendem R der Menge zuruft: „Nutzt eure Chance!“, und damit die Erneuerung, das Ende des Begünstigungssystems meint, stößt er bei der Menge auf aufmunternde Reaktionen.

Natürlich freuen sich die Leute über Unterstützung aus dem Ausland, über jede Solidaritätsadresse. Ganz oben in der Gunst stehen die Franzosen. Sie sind auch durch beachtliche rhetorische Talente vertreten, Bernard-Henri Lévy vor allem. Aber der größte Beifall gehört dem alten Schauspieler Michel Piccoli. Der nennt die Kundgebung die Geburtsstunde eines neuen Österreich. Dieser Satz trifft wie kein anderer das Lebensgefühl der Demonstranten. „Heute Abend haben nicht irgendwelche Staatsmänner, sondern wir Geschichte gemacht“.

Auch das deutsche Unterschriftenkartell, angeführt von Günter Grass mit dem Titel „Nobelpreisträger“, trifft auf freundlichen Beifall. Was mag sich wohl der Gastredner Michel Friedman, deutscher CDU-Politiker und Mitglied des Zentralrats der Juden, gedacht haben, als ihm nach seinem Plädoyer für die Achtung jedes Menschen einer der wenigen Sprechchöre, „Hoch die internationale Solidarität“, entgegenbrandete? So ändern sich die Zeiten.

Wie können die Emotionen dieser Kundgebung konserviert, wie ins Politische übersetzt werden? Kommt mehr herüber als der Ekel, den eine zwölfjährige österreichische Muslimin auf Arabisch in der Parole „Rassismus stinkt!“ zusammenfasste?

Robert Misik, einer der Organisatoren der Kundgebung, gab dem Zorn die politisch-strategische Wende. „Wir haben keine Angst vor Neuwahlen!“, rief er aus und machte damit klar, dass es außer der parlamentarischen auch eine gesellschaftliche Mehrheit geben kann, dass auch Wahlen von Massenbewegungen beeinflussbar sind. Und an die Sozialisten und Grünen gewandt, fügte er hinzu, dass nach diesem Abend in Österreich nichts mehr so sein wird wie vorher. Christian Semler, Wien

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