: Nur noch Rost hält das Ostkreuz zusammen
Das Ostkreuz ist der größte S-Bahnhof Berlins. Und ein Fossil aus der Zeit, in der die Farbe Rot noch Programm war ■ Von Franziska Reich
Er hatte einen Traum: Er wollte Fahrrad fahren und Würstchen verkaufen. So ließ er sich ein Fahrrad bauen, mit Grill und ausfahrbaren Eisenstangen für die Zeltplanen, die ihn und seine Würstchen vor dem Regen schützen würden. Er fuhr zum Amt, damit es ihm den Traum genehmige, aber das Amt sagte: „Nein.“ Er fragte: „Warum?“ Und das Amt sagte: „Weil du keine Personaltoilette hast.“ „Wie soll mein Fahrrad eine Toilette haben“, fragte er. Das Amt zuckte nur mit den Schultern.
So begrub er den Traum, packte sein Grillfahrrad ins Auto und brachte es zur S-Bahn. Bahnhof Ostkreuz. An Bahnhöfen essen viele Menschen eine gute Wurst aus Eberswalde, dachte er, stellte das Rad direkt an den Eingang gegenüber der Personaltoilette und grillte stationär. Doch er irrte. Am Ostkreuz will kaum einer Eberswalder Wurst essen. Alle zehn Minuten einer und nach fünf Uhr keiner. Trotzdem holt er jeden Morgen sein Fahrrad aus dem Auto, packt es abends wieder ein und an windigen Tagen bleibt er manchmal zu Hause.
„Es hat sich ausgewürstelt“, sagt der Würstchenverkäufer. Wieder irrt er. Es hat noch nie gewürstelt am Ostkreuz. Weil Menschen, die umsteigen, keine Würstchen essen. Weil Menschen, die umsteigen, hasten und hetzen. Hin zu den Gleisen, hinein in die S-Bahnen und heraus aus dem Ostkreuz.
Wer am Ostkreuz bleibt, der irrt. Irrt umher, weil er Bahn- steig B sucht, den es nicht gibt. Irrt zum falschen Bahnsteig, weil die S-Bahn auf dem anderen eher kommt und in dieselbe Richtung fährt. Das Ostkreuz ist kein Bahnhof, an dem Taschentücher zum Abschied winken, an dem kleine Mädchen Mütter mit Blumen begrüßen, oder Liebende sich schmachtend bei den Händen halten. Am Ostkreuz steigen die Menschen um. Umsteigen ist nicht romantisch, sondern lästig. Noch lästiger am größten Nahverkehrsumsteigebahnhof Berlins, weil er der marodeste ist und mit seiner Umgebung um die Wette bröckelt.
S-Bahnen rattern pausenlos. Speien Menschen. Schlucken Menschen. Hunderttausende. Rot und ocker sind die Leiber der Züge, und wenn die Sonne scheint, glänzen ihre Scheiben. Sonst glänzt nichts am Ostkreuz, denn Rost glänzt nicht und Steinbrocken, die aus Wänden und Mauern brechen, auch nicht. Es heißt, Rost sei das Einzige, was das Ostkreuz noch zusammenhält.
Es wird teuer und mühsam, den Rost von den Streben zu kratzen, die faulen Bretter auszuwechseln, Gleise neu zu verlegen, Treppen auszubessern, Rolltreppen und Aufzüge zu bauen. Andere Bahnhöfe im Osten der Stadt prunken inzwischen als prächtige Tempel hochmoderner Mobilität. Das Ostkreuz aber war noch nie ein Tempel, ist ein Relikt aus vergangener Zeit, als die Bahnen noch mit Dampf betrieben wurden und die Damen Walknochen im Korsett trugen. Die Sanierung wird ein Mammutprojekt, das Jahre dauern wird und den gesamten Berliner Nahverkehr lahm legen kann. Es muss saniert werden, weil allmählich nicht mehr zu flicken ist, was seit einem Jahrhundert schleichend verfällt. Flicken kostet 726 Millionen Mark.
„Alles in die Luft sprengen“, sagt der Zeitungverkäufer. „Sanieren“, sagt der Hausmeister. „Was’n Scheiß!“ sagt der Zeitungsverkäufer. „Wenn die Schienen auch noch weg sind, fährt gar kein Zug mehr“, sagt er und zieht die blaue Mütze über die Ohren. Es ist zugig in der Halle, die früher Türen hatte. Sechs Ellenbogen stützen sich auf den wackligen Campingtisch. Sechs Ellenbogen macht drei Männer, die Zeitungen verkaufen. Rote Jacken mit der Aufschrift „B.Z.“ wärmen ihre Körper von außen, Schnaps wärmt sie von innen.
Der jüngste Verkäufer hat die kürzesten Haare und den größten Hintern. Den hebt er vom Stoffhocker, schlurft Richtung Treppe, keucht hinauf, schlurft über den Hochgang und die Treppe hinunter. Zur Mitropa-Bude auf Bahnsteig D. Schon seit fünf Uhr stehen zwei Damen hinter dem Thresen. Sie sind mittelblond, mittelnett und mittelalt. „Wie ist det denn nu mit den Storno?“ fragt die eine. „Musste umbongen. Sonst stimmt ja nich“, antwortet die andere. Drei Bierdosen stehen auf dem Tisch aus Resopal. Zwei Jägermeister daneben.
Die Farbe der Geländer blättert, weil sie aus einer Zeit stammt, in der Rot noch Programm war. Eigentlich hätte die Sanierung des Bahnhofs 1998 beginnen sollen. Jetzt steht nicht einmal fest, ob die Bauarbeiter bis 2005 anrücken. So bleibt das Ostkreuz ein Bahnhof der Fußflinken. Nicht der Alten, nicht der Behinderten, nicht der Raucher. Die Treppen sind steil und die Zeit knapp. Wer nicht weiterhastet, ist hängen geblieben.
„Irgendwas musste ja machen“, sagt der Würstchenverkäufer .
„Irgendwas musste ja machen“, sagt die Obstfrau.
„Irgendwas musste ja machen“, sagt Vladimir.
Vladimir wartet das Toilettenhäuchen auf Bahnsteig D. Das Häuschen wirkt, als würde es stinken. Deshalb kommen zu Vladimir nur Menschen, die in Not sind. Menschen, deren Not größer ist als ihr Ekel. Und so stürzen sie durch die dreckig weiße Brettertür, an Vladimir vorbei, in die kleinen Kabinen und wundern sich erst, wenn sie sich unter warmen Wasser die Hände waschen. Denn alles blitzt und blinkt und riecht so sauber. Währenddessen sitzt Vladimir hinter dem Tisch, auf dem Magnolien blühen. Eigentlich ist er Elektriker. Er kommt aus Kasachstan. Dort war es schlecht, weil Kasachen keine Russen mögen. Weil in Kasachstan der Islam herrscht. Da herrscht Vladimir, der Russe, lieber über die Toilette auf Bahnsteig D am Ostkreuz.
Rings um den hektischen Bahnhof ist es still. In der Sonntagstraße stehen zwei Vietnamesen. Tagaus, tagein wippen sie mit ihren Füßen, wippen bei Regen unter der Gleisbrücke, wippen bei Sonne unter freiem Himmel und warten auf dem holprigen Pflaster zwischen den Schlaglöchern, dass jemand Zigaretten kaufen will. Oder darauf, dass die Polizei kommt.
Würstchenduft dünstet herüber. Beim Würstchenverkäufer steht Joschi, ein Freund, der eine neue Geschäftsidee hat. In der einen Hand hält er eine große Pistole mit Holzgriff, Kupferspitze und Riesenstecker, in der anderen Aufsätze mit verschiedenen Mustern: „Branding nicht auf die Titte, sondern aufs Würstchen“, erklärt er. Doch der Würstchenverkäufer will nicht branden. Er will die Bratwürste ohne Muster verkaufen. Und so dreht er sie mit der Zange und nimmt das Buch, das Joschi ihm hinhält, das er lesen wird, wenn er morgen weiterdreht und übermorgen. Der Buchtitel ist blau, sein Titel klingt schön: Die Insel des vorigen Tages.
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