: „Wir legen die Latte bewusst hoch“
Warum vor einem Jahr die Verhandlungen zwischen Serben und Albanern über eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts endgültig scheiterten
von ANDREAS ZUMACH
Paris 18. März 1999. Im Konferenzzentrum an der Rue Kleber liegt der Vertragsentwurf der Balkan-Kontaktgruppe zur Lösung des Konflikts in der südserbischen Provinz auf dem Tisch. Die Kosovo-Albaner unterschreiben. Doch die Delegation aus Belgrad lehnt nach vierwöchigen, zeitweise unterbrochenen Verhandlungen eine Unterschrift weiterhin ab. Mit dieser Weigerung und dem anhaltenden Vertreibungskrieg des Milošević-Regimes gegen die Kosovo-Albaner rechtfertigt die Nato sechs Tage später den Beginn ihres Luftkrieges gegen Jugoslawien.
Bis heute liegen „ die Umstände des gescheiterten Abkommens im Dunkeln“, wie die FAZ im Juli 1999 schrieb. Die Forderungen der sechs Kontaktgruppen-Staaten an die beiden Konfliktparteien sind weiterhin ungeklärt und umstritten. „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedigungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können“, kommentierte Rudolf Augstein im Spiegel nach dem Scheitern der Verhandlungen.
Der Beginn der ersten Verhandlungsrunde am 5. Februar im Schloss Rambouillet südwestlich von Paris stand unter dem Druck der im Oktober 1998 offiziell verkündeten und seitdem mehrfach verschärften Luftkriegsdrohung der Nato an Belgrad. „80 Prozent unserer Vorstellungen werden einfach durchgepeitscht“, unterstrich der österreichische EU-Vermittler Wolfgang Petritsch zum Verhandlungsauftakt in einem Spiegel-Interview noch einmal den ultimativen Charakter der Rambouillet-Konferenz und bekräftigte: „Vor Ende April wird der Kosovo-Konflikt entweder formal gelöst sein, oder die Nato bombardiert.“ (Spiegel, 8. 2. 99, siehe Kasten).
Russland: Nicht „mit im Boot“
Die Strategie schien aufzugehen. Diesen Eindruck vermittelte zumindest Bundesaußenminister Joschka Fischer mit der positiven Lageeinschätzung, die er am 24. Februar, amTag nach Unterbrechung der Rambouillet-Konferenz, im Bundestag abgab: Die bisherigen, wenn auch vorläufigen Verhandlungserfolge seien enorm. Ein von allen sechs Mitgliedern der Balkan-Kontaktgruppe getragener multilateraler Verhandlungsprozess sei durchgesetzt worden, und Russland sei „mit im Boot“. Damit hätten sich die Chancen auf ein UNO-Mandat für eine UNO-Truppe im Kosovo entscheidend verbessert.
Doch am 18. März in Paris zeichneten lediglich Petritsch und US-Unterhändler Christopher Hill den Vertragsentwurf als Zeugen ab – nicht aber Russlands Vermittler Boris Majorski. Denn Moskau trug nur den ersten Teil des Entwurfs, nämlich den politischen, mit. Er enthält die Bestimmungen für einen Autonomiestatus des Kosovo innerhalb Jugoslawiens. Hinter dem zweiten, dem militärischen Teil mit den Regelungen für die Stationierung einer Nato-geführten Implementierungstruppe (KFOR) standen nur die fünf westlichen Mitglieder der Balkan-Kontaktgruppe (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien). Moskau hatte sich vergeblich für eine Implementierungstruppe unter Kommando der UNO und nicht der Nato eingesetzt – um die Chancen einer Zustimmung Belgrads zu einer internationalen Militärpräsenz zu erhöhen, sowie aus prinzipiellen, völkerrechtlichen Gründen. In einem „Annex B“ zum zweiten, militärischen Teil des am 18. März von den Albanern unterzeichneten Vertragsentwurfes war die uneingeschränkte Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit der KFOR nicht nur im Kosovo, sondern im gesamten Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vorgesehen, ihr Recht zur unentgeltlichen Nutzung aller Flughäfen, Straßen, Wasserwege und anderer Infrastruktur sowie die Immunität der KFOR-Soldaten vor den jugoslawischen Behörden. „Der militärische Teil des Vertragsentwurfs läuft auf ein Besatzungsstatut für ganz Jugoslawien hinaus“, kommentierte die Bonner taz-Korrespondentin Bettina Gaus Anfang April 99. Der Wortlaut nähre „Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts seitens der beteiligten westlichen Staaten“. Erst durch diesen Kommentar und eine Dokumention in der taz wurde der Annex B der Öffentlichkeit und den meisten Parlamentariern in Deutschland bekannt – zwei Wochen nach Beginn des Luftkrieges. Bis dahin hatte Bundesaußenminister Joschka Fischer den gesamten 82-seitigen Vertragsentwurf unter Verschluss gehalten. Lediglich die Obleute der fünf Fraktionen im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages erhielten am 24. Februar – einen Tag nach Ende der Konferenz von Rambouillet – eine englischsprachige Kopie des Dokuments, die sie damals aber nicht oder nur unvollständig zur Kenntnis nahmen. „Keine Regierung in Belgrad“ hätte „den Annex B jemals unterschrieben“, weil er „die Aufgabe der Souveränität Jugoslawiens bedeutet“ hätte, erklärte jetzt der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer, Bundesvorstandsmitglied seiner Partei und scharfer Kritiker des Nato-Krieges. Der Völkerrechtler Christian Tomuschat – kein Gegner der Luftangriffe – hielt es für „nicht notwendig, eine solche Forderung zu stellen. Man konnte nicht verlangen, dass ganz Jugoslawien nun unter miltärische Besatzung gestellt wird. Das ist einfach eine unakzeptable Bestimmung.“
Fischer: Kritik ist „Unsinn“
Für die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Angelika Beer, war der Annex B ein Beleg, dass „nicht alle diplomatischen Spielräume bis zum Schluss genutzt wurden“. Selbst EU-Unterhändler Petritsch räumte Mitte April öffentlich ein, die Unterschrift Belgrads unter den Annex B hätte die staatliche Souveränität Jugoslawiens eingeschränkt. Doch Außenminister Fischer wies derartige Kritik an dem Annex B und an der Verhandlungsführung in Rambouillet stets als „Unsinn“ zurück.
„Der entscheidende Punkt ist“, betonte Fischer immer wieder, „dass wir alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft und wirklich alles versucht haben, um die militärische Konfrontation zu verhindern.“ Die Zweifel daran wachsen weiter. Vermerke und Berichte der deutschen Diplomaten, die in Rambouillet dabei waren, stehen in deutlichem Kontrast zu der optimistischen Lageeinschätzung Fischers am 24. Februar im Bundestag. Aus den in einem Zeit-Dossier im Mai veröffentlichten Vermerken geht hervor, dass die Deutschen und auch der EU-Unterhändler Wolfgang Petritsch in Rambouillet von den Amerikanern aus wesentlichen Teilen der Verhandlungen herausgehalten und von relevanten Informationen abgeschnitten wurden. Zudem war Russland bei den Verhandlungen zu keinem Zeitpunkt voll „an Bord“. Der umstrittene militärische Annex B des Rambouillet-Vertragsentwurfes wurde der russischen Regierung und ihrem Vermittler Boris Majorski lange Zeit vorenthalten. Ob die Deutschen an der Erarbeitung des Annex B beteiligt waren oder ob sie – und andere westeuropäische Mitglieder der Balkan-Kontaktgruppe – von den Amerikanern vor vollendete Tatsachen gestellt wurden,wird aus den bislang veröffentlichten Dokumenten des Auswärtigen Amtes nicht deutlich.
Belgrads UNO-Botschafter in Genf, Branco Brancović, damals Mitglied der jugoslawischen Delegation in Rambouillet, erklärte gegenüber der taz, der militärische Teil des Vertragsentwurfes mitsamt dem Annex B sei der Delegation zum ersten Mal am 18. Februar und allein von US-Unterhändler Hill vorgelegt worden mit der ultmativen Forderung nach Unterzeichnung innerhalb von drei Stunden (siehe Kasten). Russische Diplomaten haben diese Darstellung bestätigt, die Regierungen der fünf Kontaktgruppenstaaten ihr auch auf Befragen hin bis heute nicht widersprochen.
„Wir hängen die Latte bei den Verhandlungen bewusst so hoch, dass die Serben sie nicht überspringen können.“ Diese Äußerung eines ranghohen Vertreters des US-Außenministeriums in einem Hintergrundgespräch für ausgesuchte US-Journalisten während der letzten Woche der Rambouillet-Konferenz gaben zwei Teilnehmer dieses Gesprächs unabhängig voneinander zu Protokoll. EU-Unterhändler Petritsch bemüht sich inzwischen, seine ultimativen Äußerungen aus dem Spiegel-Interview aus der Welt zu schaffen. Nach auszugsweisem Abdruck des Interviews in dem Buch „Krieg im Kosovo“ (rororo 1999) erklärte Petritsch, das Interview habe nie stattgefunden, und verlangte eine Korrektur des Buches. Auf eine Gegendarstellung im Spiegel verzichtete Petritsch allerdings. Das Magazin steht zu dem Interview und hat daraus in den letzten zwölf Monaten mehrfach zitiert.
Die ganze Wahrheit über die heute vor einem Jahr endgültig gescheiterten Kosovo-Verhandlungen wird nur ans Licht kommen, wenn nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch die Außenministerien in Washington, London, Paris und Moskau alle relevanten Dokumente öffentlich zugänglich machen. In Anbetracht der nationalen Geheimhaltungsvorschriften könnte das noch bis Mitte dieses Jahrhunderts dauern.
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