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Zeitgeist in der Fremde

Gestalt aus Gehalt: In der Tübinger Kunsthalle startet mit einer Retrospektive über Erich Mendelsohn nun endlich die Gratulationstour für einen der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts

von WERNER JACOB

Ließe Geist sich materialisieren, führte er gewiss die Tonnageliste deutscher Exportschlager des 20. Jahrhunderts an. Zumindest zwischen 1933 und 1945: Wer damals bei Verstand war, unabhängig und flexibel genug, wich der Gewalt des Nationalsozialismus – und trug somit bei zum Aktivsaldo einer spezifisch deutschen Handelsbilanz. Einer dieser Expatriierten war Erich Mendelsohn.

Nun kehrt der 1887 im ostpreußischen Allenstein geborene und 1953 in San Francisco gestorbene Architekt für eine Weile zurück in das Land, in dem er einst verfolgt wurde. Organisiert vom Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen (IFA) dient die Tübinger Kunsthalle als Start und Probelauf der als „Auslandstournee“ angelegten Ausstellung, die bis 2004 durch die Welt reisen wird: „Erich Mendelsohn – Dynamik und Funktion.“

Klinische Inszenierung, sezierte Solitäre

Trefflich kennzeichnet dieses von Mendelsohn selbst geprägte Syntagma seine „Gebauten Welten“, und redlich setzt die Ausstellung sein Anliegen denn auch in Szene. Neben einigen originalen und 22 nachgebauten Modellen der realisierten Architektur wird man mit zeitgenössischen Fotografien und einer Fülle vorzüglich faksimilierter Skizzen, Zeichnungen und Pläne zurücktransportiert in eine Vergangenheit, die nur wenig Zukunft haben durfte.

Bis auf das Chemnitzer Kaufhaus Schocken und den (ebenso wie das Berliner Metallarbeiterhaus) restaurierten Potsdamer Einsteinturm existiert kaum mehr einer der in Deutschland errichteten Bauten; oder ist – so er Krieg und Wiederaufbau überlebt hat – zumindest nachhaltig gestört. Schaurig-schönes Beispiel für diesen Umgang mit Mendelsohn ist die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. 1928 als Kino Universum inmitten eines Wohn- und Freizeitzentrums, der „Woga“, mit Läden, Kabarett, Tennisplätzen und Apartmenthotel eröffnet, ist das Gebäude anfang der Achtziger verstümmelt worden: die Hülle wurde restauriert, die flirrenden Interieurs zugunsten betonierter Funktionalität eines variablen Theaterraums ausgeräumt.

Vor den Modellen und Illustrationen Mendelsohnschen Bauens indes wandelt man in der Tübinger Ausstellung durch eine klinische Inszenierung säuberlich aus dem Fleisch des städtebaulichen Kontextes sezierter Solitäre, weit von der urbanen Wirklichkeit entfernt.

Das hat seinen Reiz, zugegeben. Doch gerade Erich Mendelsohn entwickelte seine Bauwerke in unablässiger und selbstverständlicher Zwiesprache sowohl mit dem gebauten Umfeld, in das hinein sie einzufügen waren, als auch mit dem gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sie entstanden sind. Wozu seine Biografie entscheidende Impulse gab: Erst in Berlin, dann in München studierte der Sohn einer kleinbürgerlich-jüdischen Familie in einer Zeit des Umbruchs zunächst Volkswirtschaft, dann Architektur. In München, wo er 1912 sein Architekturstudium cum laude abschloss, gehörte Mendelsohn zum Kreis um Kandinsky und den Blauen Reiter. Eine Karriere als Designer, Bühnen- und Kostümbildner schien jedenfalls vorprogrammiert.

Masse braucht Licht,Licht bewegt die Masse

Erst in Berlin wurde er mit seiner Rückkehr zur Architektur eminent erfolgreich – mit allen Insignien von Eitelkeit, Prosperität und Ansehen. Sein Ruf reichte weit über Deutschland hinaus, bevor er schließlich während seines Exils in England, Palästina und den USA als Baumeister reüssierte. Jugendstil, Abstraktion und Expressionismus waren formale, industrielle Technik und Produktionsweisen inhaltliche Zutaten seiner künstlerischen Praxis; Eindrücke seines Militärdienstes im Ersten Weltkrieg und die Mitarbeit im novemberrevolutionären „Arbeitsrat für Kunst“ setzten „architektonisches Ferment frei“ für eine komplexe Architektur von selten mimetischer Elastizität.

Im Umfeld der Cellistin Luise Maas, die er 1916 heiratet, knüpft Mendelsohn gesellschaftliche Verbindungen zu avantgardistischen Wissenschaftlern wie Albert Einstein und Erwin Finlay-Freundlich. Deren Gravitations- und Relativitätstheorie werden zum Turbogenerator seiner Karriere: „Masse braucht Licht, Licht bewegt die Masse“, jubelt der junge Architekt und baut für die astrophysikalischen Observationen der beiden Wissenschaftler den Einsteinturm von Potsdam. Wobei er versucht, Einsteins grundlegendes Axiom, dass Masse und Energie austauschbar seien, architektonisch auszudrücken.

Expressionistisch beschwingt scheint für Mendelsohn der Turm „seine solide Masse querfeldein in die Landschaft hinauszuschreiten“. Schnell bilden sich Fronten: Während die einen im Einsteinturm eine dynamische Metapher der Moderne sehen, wird er von seinen Kritikern als marktschreierisches Monument eines fossilen Symbolismus geschmäht.

Der Schwung der neuen Zeit manifestiert sich in der Organisation von Raum und seiner Darstellung unter Verwendung moderner Materialien – Stahl, Glas, Beton. Nicht zuletzt aus dem Widerstand gegen die seinerzeit noch unausgereifte Stahlbetontechnologie gewinnt Mendelsohn die Einsicht, dass Form oder Funktion nur eines Ticks zu viel bedürfen, um in Ismen umzuschlagen. Diese Probleme bedenkt er bei seinem folgenden Entwurf der Hutfabrik in Luckenwalde. Aus den aufeinander abgestimmten Abläufen von Produktion, Verwaltung, Expedition schneidert Mendelsohn den Hutmachern eine Architecture parlante à la lettre: die Hallen von längs gerippten Ziegelbändern gefasst, die wie in textiler Manier um die Gebäude geschlungene Paspeln erscheinen, der Dunstabzug über der Färberei zu einer abstrakten Hutskulptur modelliert. Hoch aufragend über Entree und Produktionshallen wird diese zum weithin sichtbaren Signet einer architektonischen Corporate Identity.

Hier das eigene expressionistische Ungestüm, dort die materialen und wirtschaftlichen Zwänge: Mit 35 Jahren hat Mendelsohn ein Repertoire gefunden, das er selbst als „funktionelle Dynamik“ klassifiziert. In den ihm verbleibenden zehn deutschen Jahren avanciert er damit zum gefragtesten Architekten des Landes, dessen Büro laut Katalog „in seinen besten Zeiten mit etwa vierzig Mitarbeitern zu den größten Europas zählte“. Immerfort analysiert Mendelsohn Funktion und Form geplanter Bauwerke in unzähligen de- und rekonstruierten Skizzen und Entwürfen, alles unter dem Primat symbolhaltiger Hüllen bei gleichzeitiger technischer Ausrüstung auf höchstem Niveau.

Beispielhaft für diese Vorgehensweise sind das Berliner „Columbushaus“ (1931) oder die Warenhäuser für die Schocken-Kette: Ihr konstruktiver Stahlskelettbau ist wegweisend; die Inszenierung für die Warenpräsentation, die innere Lichtregie und die äußeren Leuchtreklamen sind schlichtweg vorbildlich. Das ganze Gebäude gehorcht den Regeln einer architektonischen Transformationsgrammatik, die aus einem bekannten Formenvorrat bisher ungesehene Oberflächenstrukturen erzeugt – Avantgarde eben. Ein tödliches Etikett im Dritten Reich. England bietet eine erste Zuflucht: Mit dem De-la-Warr-Pavillon in Bexhill-on-Sea spendiert Mendelsohn der Übergangsheimat eines seiner fortschrittsmächtigsten Projekte. 1935 wandert er nach Palästina, baut Villen, Krankenhäuser, Universitäten und mit der „Anglo-Palästina-Bank“ in Jerusalem ein architektonisches Pendant zu Geld und Gut. Zugleich schafft er sich mit kritischen Anmerkungen zu einem ihm als Gefahr erscheinenden Chauvinismus der zionistischen Bewegung wieder neue Gegner.

Symbolisch und symbiotisch unter einem Dach

1941 wird er als „the only born revolutionary (architect) of his generation“ in den USA enthusiastisch begrüßt. In Vorträgen und universitären Lehraufträgen stellt er seinen Architekturkosmos vor und erhält bald Aufträge für profane und sakrale Bauten. Mit dem jüdischen B’nai Amoona-Gemeinschaftscenter in St. Louis, wo verschiedene Aktivitäten israelitischen Glaubens- und Gemeinschaftslebens symbolisch und symbiotisch unter einem Dach vereint sind, kreiert er ein funktional organisches, formal expressives Bauwerk, das auch in Übersee seinen Ruf als innovativer Genius befestigt. Plastisch präsentieren die „Gebauten Welten“, wie Regina Stephan eine Monografie über Mendelsohn nennt, Leben und Werk dieses lange Zeit verkannten Erneuerers der Architektur. Das 1998 erschienene Buch dokumentiert sehr anschaulich den Lebensweg eines Menschen, der ein Fremder in all seinen ephemeren Heimaten blieb.

Die in den Sechzigern einsetzende Rehabilitation des Oeuvres ist nicht zuletzt dem kürzlich verstorbenen Doyen der italienischen Architekturgeschichtsschreibung, Bruno Zevi, zu danken, der ein Werkverzeichnis Mendelsohns erstellt hat. Es ist ein biografisches und berufliches Handbuch, gespickt mit Rückblicken zu Mendelsohns Wurzeln bei Antoni Gaudí, Victor Horta, Josef-Maria Olbrich und Auguste Perret. Nebenbei zeigt Zevi auch die Nachwirkungen im Werk einiger Mendelsohn-Enkel wie Günter Behnisch oder Frank O. Gehry bis hin zu Zvi Heckers jüdischer Grundschule im Berlin der Neunziger auf. In Tübingen aber werden mit der ersten großen Mendelsohn-Retrospektive vor allem die „realisierten Visionen eines kosmopolitischen Architekten“ endlich angemessen gewürdigt.

Kunsthalle Tübingen, bis 2. April; weitere Stationen Tel Aviv, Jerusalem, Breslau, Oslo, USA u. a. (bis 2004); der Katalog kostet an der Kasse 59 DM, im Buchhandel 128 DM. Weitere Lektüre: „Erich Mendelsohn. Gebaute Welten“. Mit Beiträgen von Charlotte Benton, Ita Heinze-Greenberg, Kathleen James, Hans R. Morgenthaler, R. Stephan. Gert Hatje Verlag 1998, 344 S., 128 DM

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