intershop: ANALÍA IGLESIAS ÜBER SÜDAMERIKANISCHE TABUBRÜCHE IN BERLIN
Von der Karl-Marx-Straße zum Sowjetischen Ehrenmal
Hat man sich als Argentinier von der Überraschung erholt, in der deutschen Hauptstadt Straßen entlangzulaufen, die Karl Marx heißen, findet man noch andere Wege, die das südamerikanische Weltbild durcheinander bringen können. Einer davon ist der, der zum Treptower Park mit dem russischen Ehrenmal führt. Bei dem stalinistischen Tempel weiß man nicht genau, ob er Ungläubige überzeugen oder das Vertrauen der Gläubigen verstärken will.
Der ahnungslose Argentinier betritt mit großem Misstrauen den Park der sowjetischen Helden. Vorher hat er sich erkundigt, warum die Ostberliner den Westberlinern erlaubt haben, das Denkmal stehen zu lassen. Doch die Antwort, man müsse den sowjetischen Sieg respektieren, überzeugt ihn nicht. Waren es nicht die Amerikaner, die den Krieg gewonnen haben? Egal. Der Argentinier glaubt, dass ihm nichts passieren kann. Er hat gehört, dass die Kommunisten keine rohen Kinder mehr fressen.
Es gibt Tabuwörter in lateinamerikanischen Ländern – bis auf Kuba –, die nur mit der ebenfalls verbotenen Abtreibung zu vergleichen sind. Dazu gehören „Kommunist“, „Sozialist“, „Atheist“, „Marx“, „Lenin“, „Trotzki“, „Stalin“, „Anarchist“. In den 70er-Jahren durfte kein anständiger Bürger ein Buch haben, dessen Titel nach Sozialismus klang. Andernfalls lief man Gefahr, zusehen zu müssen, wie die eigene Bibliothek brannte. oder selbst eingeäschert zu werden. Neben diesen verbotenen Wörtern gibt es ebenso verbotene Symbole. Das schlimmste ist Hammer und Sichel. Und was ist das Erste, was der Argentinier im Treptower Park sieht? Eine monumentale Mauer mit Hammer und Sichel.
Trotzdem geht er durch das Eingangsportal, weil er als Katholik weiß, dass Gott bei ihm ist. Bevor sich der Argentinier von den in Mauer gemeißelten Gedanken Stalins erholen kann, ereilt ihn der nächste Schreck. Vor ihm erhebt sich der riesige sowjetische Soldat mit dem zerschlagenen Hakenkreuz zu seinen Füßen. Passt er auf,dass niemand wegläuft? Schreie wie in einem B-Picture-Horrorfilm würden nichts nützen. Niemand würde ihn hören. Weglaufen kann er auch nicht. Ein plötzlicher Sturm, der direkt aus Sibirien zu kommen scheint, stellt sich ihm entgegen.
Der Argentinier, der keine andere Wirtschaftsform als die des freien Marktes kennt, hat eine Idee. Er beobachtet die Nase des Soldaten und sucht das kleine Fenster, hinter dem der Verwalter sitzt. Er stellt sich vor, dass dieser Mann den Auftrag hat, einen Hebel zu betätigen, damit es stürmt, wenn Besucher aus südlichen Ländern kommen. Mit dieser Erkenntnis ist seine Welt wieder in Ordnung. Das russische Ehrenmal in Treptow ist nur ein Vergnügungspark wie Disney World. Wenn er am Ausgang nicht bezahlen muss, ist es ein öffentlicher Vergnügungspark.
Die argentinische Journalistin Analía Iglesias (37) ist Teilnehmerin des Journalistenaustausches „Internationale Journalistenprogramme“ zwischen Deutschland und Lateinamerika.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen