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Begeisterung hält sich in Grenzen

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Alexander Karas hat es geschafft. Nach russischen Maßstäben zumindest. Vor zwei Jahren gründete der promovierte Mathematiker sein eigenes Unternehmen. Er hatte sich zunächst auf Programme für Versicherungen und Großunternehmen spezialisiert. Ministerien, Banken, die Wertpapierbörse und in Moskau ansässige Westfirmen zählen mittlerweile zu seinen Kunden. „Materiell alles bestens“, meint der 43-Jährige. Und doch schließt er die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten, nicht aus.

Nicht wegen der Einkommenslage – Computerspezialisten verdienen für russische Verhältnisse in Moskau überdurchschnittlich viel: zwischen 500 und 1.500 Dollar. Aber die unsichere Zukunft des Landes lässt ihn manchmal an ein Leben im Ausland denken. Viele seiner Bekannten und Studienkollegen sind in der ersten Hälfte der 90er-Jahre ausgewandert – danach flaute der Exodus etwas ab. Rund 8.000 Wissenschaftler leben als so genannte „innere Emigranten“ in Russland. Sie bleiben im Land, arbeiten aber für ausländische Auftraggeber wie das US-Energieministerium oder sogar das Pentagon, stellte eine russische Studie fest. Ihr Potenzial sei für die heimische Volkswirtschaft praktisch verloren. Fachliche Kompetenz und niedrige Lohnkosten sind ausreichende Anreize für Westfirmen, um russische Wissenschaftler anzuheuern. Die Diskussion um die Green Card hat in Moskau nicht gerade einen Sturm ausgelöst. Das liegt an dem hohen Einkommensniveau der Hauptstadt. „Die Reserven“, darin sind sich Moskauer Informatiker einig, „schlummern in der Provinz.“ Sobald sich dort herumgesprochen hat, dass Deutschland seine Tore für Experten aus der Computerbranche öffnet, wird der Ansturm wachsen. Anfragen gebe es zwar jetzt schon ausreichend, bestätigt die Deutsche Botschaft, doch hauptsächlich von Interessenten, die das Anforderungsprofil nicht ganz erfüllen.

In Moskau sind es vor allem zwei Gruppen, die es ins Ausland zieht: Hochspezialisierte Fachleute zwischen 35 und 45 Jahren und angehende Absolventen der Elitehochschulen. Sie sind in der Regel zwischen 22 und 25 Jahre alt. Über die Hälfte der Moskauer Hochschulabsolventen, ergab eine Umfrage, spielt mit dem Gedanken zu emigrieren. Einem Zehntel der angehenden Diplomanden liegt schon ein Angebot aus dem Ausland vor. Nur aus Deutschland kamen bislang kaum Einladungen.

Kein Wunder, wenn die Wissenschaftsgemeinde vor einer gefährlichen Tendenz warnt. Der Braindrain konzentriert sich gerade auf diese jungen Talente. Mit ihnen wandern auch wissenschaftliche Leistungen zu Schleuderpreisen auf den westlichen Markt, ohne dass die heimische Wissenschaft davon profitiert. Das Verhältnis der schlecht bezahlten Heimattreuen zu diesen „Abtrünnigen“ ist zunehmend angespannt.

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