: G wie Griffelwahnsinn
Mit Rinderwahnsinn ist nicht zu spaßen. In Hamburgs Kulturkreisen gibt es jetzt besorgniserregende Abart: den Griffelwahnsinn. Eine 75 Jahre alte Institution ist auf schwerste Weise vom Selbstzerfleischungsvirus befallen. Das wäre kaum wichtiger, als Querelen im Hundezüchterverein, würde da nicht eine in ihrer Art einzigartige und ehrwürdige Institution ruiniert und träfe nicht der herumgeschleuderte Dreck zahlreiche aktive oder bereits pensionierte Kulturträger.
Worum geht es? Die Griffelkunst-Vereinigung in Langenhorn wurde 1925 im Geiste Alfred Lichtwarks vom Hamburger Volksschullehrer Johannes Böse gegründet und dient der nichtkommerziellen Verbreitung von originaler Auflagenkunst. Bis 1964 von der Gründerfamilie praktisch privat geführt, ist die Griffelkunst inzwischen ein demokratischer, gemeinnütziger Verein. Heute können über viertausend Mitglieder viermal im Jahr graphische Blätter oder Verwandtes für ihre eigene Sammlung erhalten - mit der ausdrücklichen Auflage, damit nicht zu handeln.
Doch diese angenehm unmodisch den Kunstkommerz vermeidende Leistung ist seit Monaten von aberwitzigen Streitigkeiten überschattet. Senilität und Blindheit sind dabei noch die vorsichtigsten Vorwürfe, Veruntreuung, Vorteilsnahme und Verrat, Vetternwirtschaft und Manipulationen, Betrug und Unterschlagung die härteren Bandagen. Das alles ist – leider – nicht nur Imponiergehabe, manches davon beschäftigt bereits die Gerichte.
Eine Mitgliederversammlung am Freitag abend sollte nun eine neue Satzung beschließen, mit den angesammelten Unstimmigkeiten aufräumen und Klarheit bringen. Doch der einzige Beschluss, der in fünf Stunden gefällt wurde, war, dem bereits abgewählten Vorstand weiterhin die Entlastung zu verweigern und sich im November erneut zu treffen. Das liegt vor allem an dem alten Vorstand Carl Vogel, der ungebrochen selbstherrlich den Verein und die Öffentlichkeit mit endlosen Schriftstücken befasst und die Griffelkunst nach wie vor so sehr als „seinen“ Verein versteht, dass er dessen Nutzung für seine Privatsammlung als selbstverständlich empfindet und jeden vom amtierenden Interimsvorstand unter Leitung von Ralf Busch angebotenen Kompromiss ablehnt.
So werden die gegenseitigen Vorwürfe weiter die interessierten Kreise beschäftigen, statt dass der Blick auf die Arbeit des Vereins fällt. Und das ist schade. Denn die Griffelkunst hat anlässlich ihres Jubiläums im Kunsthaus eine beachtliche Ausstellung zusammengestellt. Geschäftsführer Harald Rüggeberg und Kunsthausleiter Claus Mewes haben statt einer rückbli-ckenden Leistungsschau den Blick in die Zukunft gerichtet und demonstrieren unter dem allerdings etwas zwangsfröhlichen Titel „gut aufgelegt“ anhand von 20 jüngeren, noch nicht verlegten Künstlerinnen und Künstlern, wie aktuell vervielfältigte Kunst sein kann.
Dabei zeigen die Londoner Chapman-Brüder in 82 Radierungen nach Goya nicht nur, wie gegenwärtig das Thema Gewalt ist, sondern auch, dass selbst die altbekannte Radierung noch neu zu nutzen ist. Der Hamburger Jochen Flinzer stickt Modeetiketten nach, York der Knöfel zeigt Videos, Rupprecht Matthies kombiniert Tapeten mit Plexi-glasschriftzügen, Peter Zimmermann bietet Texte in Logoform auf Pappkartons und die Israeli Tamar Schori PC-Phantastisches auf Leinwand gedruckt. Auch hier erobert die noch in den Achtziger Jahren nicht als kunstwürdig anerkannte Fotografie immer mehr Raum: Sei es der Clown im Müllberg von Jon Isaacs oder die auf konkrete Malerei referierende Farbfotografie von Christiane Richter. Und vor allem ist Kunst auf die Dauer viel interessanter, als Vereinsmeierei. Hajo Schiff
„gut aufgelegt“, Kunsthaus,Klosterwall 15, bis 12. Juni
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