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Ausrutscher oder Provokation?

Frankreichs Innenminister Chevènement geht gegen die Europapläne Joschka Fischers an – und könnte darüber sein Amt verlieren

aus Paris DOROTHEA HAHN

Frankreichs Innenminister Jean-Pierre Chevènement hat wieder einmal zugeschlagen. Dieses Mal gegen ein föderales Europa, wie es der deutsche Außenminister Fischer jüngst „als Privatmann“ propagierte. Deutschland, so analysierte Chevènement am Sonntagabend in einem Fernsehinterview, „träumt immer noch von einem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Und es ist noch nicht geheilt von der historischen Entgleisung des Nationalsozialismus.“

Chevènement hatte nichts wesentlich anderes gesagt, als er schon vor Jahren in einem Buch veröffentlichte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Sendung auf France 2 war noch nicht zu Ende, da meldeten sich bereits die ersten Kritiker zu Wort. Zuvorderst ein Mann, der seit beinahe 20 Jahren Staatschef außer Dienst ist. Der rechtsliberale Ex-Präsident Valéry Giscard d’Estaing bezeichnete Chevènements Worte als „skandalös“ und rief nach Konsequenzen. Und der Europaabgeordnete der französischen Grünen, Daniel Cohn-Bendit, beschrieb den Auftritt des Innenministers, dessen Rücktritt er bereits bei früheren Gelegenheiten verlangt hatte, als „unglaublich“ und forderte Chevènements Rücktritt.

Bis Redaktionsschluss änderte sich wenig an dieser Konstellation: Rechte und linke Wirtschaftsliberale und Befürworter des Maastricht-Europas droschen auf Chevènement ein und verlangten seinen Rücktritt, während die anderen schwiegen. Bloß der Parteivorsitzende der Sozialistischen Partei, aus der Chevènement vor Jahren ausgetreten war, um seine kleine „Bürgerbewegung“ zu gründen, signalisierte Verständnis. François Hollande nannte die Analyse des Innenministers „durchaus zulässig“. Der früher einmal ebenfalls europaskeptische Staatschef Jacques Chirac sowie der sozialistische Regierungschef Lionel Jospin schwiegen.

Chevènement selbst, der sich gestern Morgen erneut zu Wort meldete, nahm in der Sache nichts zurück. Er bedauerte bloß, dass er in der verkürzten Form, die das Fernsehen verlange, möglicherweise missverständlich gewesen und von „Spezialisten der Provokation“ verzerrt worden sei. „Ich liebe Deutschland und die Deutschen“, versicherte Chevènement und regte einen neuen Elysée-Vertrag an, um die „bilateralen Beziehungen“ auf eine aktuellere Basis zu stellen.

Chevènements europapolitische Vorstellungen sind seit Jahren bekannt. Er ist ein Föderalismuskritiker und Befürworter eines „Europas der Nationen“, in dem die Nationalstaaten ihre Souveränität behalten. Gegen das deutsche Konzept des Föderalismus setzt er das französische Konzept des Jakobinismus. Damit steht Chevènement in Frankreich nicht allein. Quer durch das linke wie das rechte politische Lager verlaufen tiefe Gräben zwischen „Souveränisten“ einerseits und „Nationalisten“ andererseits. Die „linken Nationalisten“ sind bei den Kommunisten, ohne deren Regierungsbeteiligung Jospin keine Mehrheit im Parlament hätte, und in Chevènements Bürgerbewegung. Die „rechten Souveränisten“ sitzen teilweise innerhalb der von Chirac gegründeten neogaullistischen RPR, teilweise rechts von ihr. Föderalismusbefürworter sind links nur bei PS und Grünen und rechts bei der liberalen UDF in der eindeutigen Mehrheit.

Noch 1992 zeigte das Referendum über die Maastrichter Verträge, wie stark die Position der Europaskeptiker in Frankreich ist. Damals schafften die Befürworter dieser Form der europäischen Einigung nur eine hauchdünne Mehrheit von 0,5 Prozent. Unter anderem warben Politiker wie der Neogaullist Philippe Séguin und Charles Pasqua, aber auch die jetzigen Regierungsparteien KPF und „Bürgerbewegung“ für ein „Nein“.

Wenige Tage nach den Fischer-freundlichen und damit zugleich proföderalen Erklärungen des französischen Außenministers Védrine hat jetzt Innenminister Chevènement den europaskeptischen Teil der Anhänger der rot-rosa-grünen Regierung bedient. Was er sagte, entspricht den Bedenken vieler Linker. Populär ist unter anderem sein Hinweis, dass in Fischers Modell eines avantgardistischen „Gravitationszentrums“ wenige Jahre nach dem Mauerfall eine „neue Mauer“ quer durch Europa verliefe – eine „Mauer des Geldes“.

Bislang war Jospin auf den linken EU-Kritiker Chevènement politisch angewiesen. Dieses Mal freilich schießt sich eine größere Gemeinschaft von Bedenkenträgern auf den erfahrenen Provokateur ein als je zuvor. Sollte er gehen müssen, hätte sich das europapolitische Kräfteverhältnis in der rot-rosa-grünen französischen Landschaft radikal geändert.

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