: Das Medium ist die Massage
Goldene Zeiten für Literatur (IV): Die neue deutsche Plapperprosa ist eine meisterliche Umsetzung des „Get-up-Prinzips“
■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur: Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen
von MATTHIAS POLITYCKI
Ein Bürschlein, offensichtlich Luxusalkoholiker, bereist Deutschland, übergibt sich dabei mehrfach, findet es „irgendwie wahnsinnig rührend und nett“, dass ihm jemand die eigne Kotze aus der Spur wischt, und immer mal wieder – nicht etwa bloß, wenn einer versucht, „mir durch meine Hose hindurch seinen Finger in den Hintern zu stecken“ – beschleicht ihn das Gefühl des „Wichtigseins“: Schließlich trägt er bei seinen charmanten Abenteuern ein Kiton-Sakko, auf das man als Taxifahrer ganz eifersüchtig wird, weil man sich selber niemals eines leisten könnte – jedenfalls stellt sich unser Fant das so vor –, weswegen der Taxifahrer auch noch „ein dickes Trinkgeld (kriegt), damit er in Zukunft weiß, wer der Feind ist“.
Das Bürschlein heißt Christian Kracht, seine verkatert dahinschnöselnde „Knabenwindelprosa“ – dies der Titel einer höchst erfrischenden Generalabrechnung von Feridun Zaimoglu – wie auch die seiner mittlerweile zahlreichen Nachahmer ist unter literarischem Gesichtspunkt nicht der Rede wert, kommt sie doch stilistisch so aufregend daher wie eine Novellensammlung des Herrn Schlink: präpräprämodern von A nach B und im bravsten Dudendeutsch erzählt. Weil aber natürlich auch die so genannte Szene weiß, dass derlei direkt Von-sich-Gegebnes, vulgo Erbrochnes, noch lange keine Literatur ist, hat man flugs das Etikett Popliteratur dafür erfunden: und damit eine Art Spaßliga-Prosa, in der keine Abseitsregeln mehr gelten, ja, in der man den Ball auch schon mal mit der Hand über die Linie schubsen darf, Hauptsache, es fallen möglichst viele Tore.
Doch was will uns das einstige Zauberwort Pop hier eigentlich noch sagen? Nichts, aber auch gar nichts an dieser neuesten deutschen Plapperprosa ist Pop, umgekehrt wäre dann ja auch Verona Feldbusch eine Repräsentantin der Gegenwartsliteratur. Wenn sich also unsere selbst ernannten Verkünder des Zeitgeistes mitsamt ihrer schmalbändigen „Egozentrik-Prosa“ (Kiepenheuer & Witsch-Werbung) – der Kiton-Sakko- und Hosenscheißervariante von „Zlatkos Welt“ – als Seifenoper inmitten unsrer vielleicht dreißig gleichzeitig stattfindenden Gegenwartsliteraturen zu plazieren suchen: so wäre eigentlich alles in bester Ordnung, denn an unfreiwilliger Komik ist auch im Kulturbetrieb stets Bedarf.
Doch doch, ich freue mich wirklich, dass es diese neuen Pixi-Büchlein gibt – für den einen sind sie todernst zu nehmende Trendbarometer des gerade Angesagten, für den andern herrliche Paradebeispiele dafür, wie leicht das todernst Gemeinte ins Lächerliche umkippen kann: Es ist ja nicht zuletzt der Blick des Lesers, der aus einem Buch etwas macht. Der Spaß hört freilich dort auf, wo die Gschaftlhuberei beginnt, und dafür sorgen seit je die Medien: nicht immer, aber immer öfter. Statt nämlich das, was vollständig auseinanderzudiffundieren droht – unsere dreißig gegenwärtigen Spartenliteraturen –, mit ihren Vergleichen wieder zu einem Ganzen zusammenzubringen, zur Gesamtschau aller Literatur-Ligen (einschließlich der popistischen Spaß-Liga), beschränken sie sich immer öfter auf das Nachposaunen dessen, was als neueste Halbjahres-Sensation von den Verlagsprospekten vorgegeben wird: Mangelnder Überblick lässt sich auch in der Literaturkritik mit einem postmodernen „anything goes“ kaschieren. Wenn sich das Medienkarussell aber immer schneller dreht und immer neue Moden, Schlagwörter, Hypes benötigt, dann sind die literarischen Aspekte desselben ohnehin bald durchdekliniert, dann erhält auch das Außerliterarische zunehmend an Bedeutung: Immer häufiger steht bereits das singuläre Ereignis, der Event oder gar das Autorenfoto im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und diese Tendenz wird sich in zunehmendem Maße verselbständigen.
Wo sich jedoch das eigentlich Literarische zunehmend aus unserm Literaturbetrieb verabschiedet, sind die Tantentäuscher nicht weit: Bei Fernsehübertragungen von Fußballspielen sieht man immer häufiger eine neue Form der Bandenwerbung – links und rechts des Tors aufrecht ragende Schriftzüge, genau genommen, nur deren freistehende Buchstaben samt dem Schatten, den sie werfen. Erstaunlicherweise gehen die Torhüter erkennbar unbeschadet durch solch einen Schriftzug hindurch, er scheint für sie gar nicht zu existieren. Und das tut er auch gar nicht – es handelt sich um so genannte „Get-ups“, die aus flach liegenden Teppichen, dem „Buchstabenschatten“, bestehen. Der Rest ist ein reiner Kameratrick, der den Schatten als vermeintlich stehenden Schriftzug erscheinen lässt: für den Fernsehzuschauer nämlich, nur für den Fernsehzuschauer. Solche Get-ups gibt’s neuerdings auch in der Literatur und wird’s in Zukunft noch weit häufiger geben: Autoren, die von den Medien zur jeweils aktuellen Modeerscheinung erklärt werden – Kraft durch Presse –, im tatsächlichen Fortgang der Literaturgeschichte aber bloß eine Schattenexistenz führen: das Get-up-Prinzip.
Meisterlich gehandhabt wird das Get-up-Prinzip von den Herrschaften Popliteraten: Galten vor kurzem noch Brinkmann und Neumeister als Pop, sind es heute ausgerechnet solch entfesselt Neokonservative wie Stuckrad-Barre, die erfolgreich mit der Vorspiegelung von Tatsachen beschäftigt sind. Dass dabei die Imagepflege zur Chefsache wird, haben sie begriffen – das Medium ist die Massage, das ist der Kernsatz ihres Erfolgsrezepts –, und diejenigen, die Schriftsteller noch immer mit Menschen in speckigen Lederjacken verwechseln, regen sich entsprechend drüber auf. Nichts gegen Designerklamotten! Ein Autor in einem gut geschnittenen Anzug ist mir allemal lieber als einer, der seine Kreativität durch Achtlosigkeit gegenüber äußeren Formen unter Beweis zu stellen sucht. Formbewusstsein ist nicht beliebig abrufbar, ist nicht nur ein Talent, sondern auch ein Fluch: Wer schöne Sätze liebt, wird mit hässlichen Anzügen nicht leben können – an der Art, wie er seine Sätze baut, kann man ablesen, wie seine Füße riechen.
In (nicht ganz unproblematischer) Umkehrung dieses Kardinalaxioms sind die Popliteraten vor allem mit Selbststilisierung beschäftigt – und haben damit etwas Zukunftsweisendes begriffen: dass ein perfekt inszenierter Ästhetizismus des eigenen Auftretens in unserer massenmedial vermittelten Gesellschaft weit wirksamer ist als die Ästhetik des gedruckten Satzes, haben begriffen, dass der Autor – genau genommen: der in der Talkshow auftretende Autorendarsteller – heute wichtiger ist als sein Werk; und so, wie’s inzwischen echte und getürkte Bandenwerbung gibt, gibt’s für den Zuschauer, der über entsprechende Hintergrundinformationen nicht verfügt, echte und getürkte Schriftsteller. Wobei die getürkten, weil sie konsequent von einer Wirkungsästhetik ausgehen und sich stets direkt neben dem Tor postieren, sogar die größere Aufmerksamkeit erhalten: das Get-up-Prinzip, wie gesagt.
Doch zur Selbstvermarktung gehören immer zwei – der Selbstvermarkter und derjenige, der ihm dafür den Teppich ausrollt: Kaum treffen sich fünf unserer Herrschaften – Jugend forscht im Berliner „Adlon“ –, um ein wahrlich trauriges Buch über den Zustand der neuen Pseudodekadenz zusammenzutröten, schon begeben sich selbst alte Feuilletonesel aufs Glatteis: verwechseln pars mit toto, verwechseln unsere fünf Tenöre mit allem, was da singt und munter durcheinanderklingt, als ob „die Jugend“ nur von früh vergreisten Schattenparkern repräsentiert wird! Ja, die allerjüngste deutsche Literatur und ihre großväterlich hippen Gönner ... Da baggern sie kleine Mädchen an und rufen, trau-schau-wem, ein Frolleinwunder aus. Da haben sie die Schnauze endlich voll vom jahrelang künstlich hoch gehaltenen Mayröcker-Duden-Waterhouse-Gesumse, und prompt verkaufen sie uns Slampoetry als die neue Lyrik schlechthin. Da können sie das ganze Grass-Gesinnungsgedöns nicht mehr ab und stürzen sich aufs Gegenteil, auf ein Häuflein an bramarbasierenden Jungspunden, die nicht mal eine ernst zu nehmende Haltung zur Popmusik vorzuweisen haben, geschweige eine zur Welt.
Die armen Popliteraten – so viel Polemik haben sie wahrscheinlich gar nicht verdient. Obendrein werden sie über kurz oder lang ohnehin am eignen Anspruch scheitern: Die Lesung als Event, das Buch als Ablenkungs- und Zerstreuungsmedium – das ist eine Schlacht, die gegen den tatsächlichen Pop niemals gewonnen werden kann. Bis die Herrschaften also vom Get-up-Prinzip des uns umtobenden Gesamt-Pops verschlungen werden, freuen wir uns doch einfach an ihnen: Immerhin haben sie eine Zielgruppe wiederentdeckt, die Schüler, die weiß Gott in den letzten Jahren einiges an Frisch, Böll, Botho Strauss zu ertragen hatten. Kein Wunder, dass die Boygroups regen Zulauf verzeichnen, angemessen wäre’s sicherlich, wenn man sie mit Stofftierchen überhäufte statt mit Feuilletonartikeln: War Take That jemals was andres als – Take That?
Aber genau das tut man, man feuilletoniert – man verdammt, glorifiziert, macht alles mögliche, nur nicht das einzig Angemessne: diese popistischen Get-ups als das darzustellen was sie sind, als Tromp-l’oeil-Phänomene. Und hier sind wir erneut bei der Krise der deutschen Literaturkritik: Was ist los mit unsern Profi-Lesern, dass sie ein Get-up mit Literatur verwechseln – und was haben wir von ihnen dann als nächstes zu erwarten?
Natürlich gibt’s auch jede Menge guter Kritiker, sehr guter Kritiker. Woran liegt’s aber, dass die Literaturkritik als Ganzes so tief in der Krise steckt? Ist’s ihr Zwang zur Witzigkeit, der etwas Grundsätzliches verkennt, dass nämlich unter jedem ironischen Text etwas zutiefst Unironisches als Basso continuo mitschwingen muss, auf dass er nicht im allgemeinen Rauschen der Oberflächen verschwinde? Ist’s ihre Eitelkeit, die sich im Wettlauf um den frühestmöglichen Erscheinungstermin einer Rezension die Ruhe des Urteilens versagt und, verhängnisvoller noch, eine Dienstleistung am Feuilletonleser zum Primärereignis umfunktioniert? Oder ist’s vor allem eins – dass die Kriterien nicht mehr passen, nach denen man bis vor kurzem noch Literatur beurteilen konnte, dass es folglich keinerlei theoretischen Horizont mehr gibt, vor dem einzelne Publikationen ihre Umrisse deutlicher zeigen könnten – und dass man dieses offensichtliche Manko durch verschärft privatistische Geschmacksurteile zu überspielen sucht?
Zeit, nach Art der „Bleichen Feder“, die alljährlich für den schlechtesten Vorschau- bzw. Klappentext an einen Verlag verliehen wird, einen Kritikerpreis zu stiften: und zwar von Seiten der Schriftsteller. Nicht etwa, um sich für einzelne Verrisse zu rächen – ein ordentlicher (sprich: jenseits geschmäcklerischer Vorlieben vollstreckter) Verriss gehört ins Leben jeden Autors –, sondern: für all dies Oberflächliche, dies hochtrabend Selbstverliebte, eben: dies Kriterienlose im Umgang mit Literatur, das schon beinah zur achselzuckend hingenommenen Selbstverständlichkeit geworden ist. Geben wir den Kritikern doch eine Chance – angesichts all der literarischen Sensationen, die sie sich heutzutage verpflichtet fühlen, regelmäßig aus der Taufe zu heben, haben sie einfach nicht mehr genug Zeit fürs Eigentliche: Finanzieren wir dem Bedürftigsten unter ihnen doch ein Jahr der Lektüre – durch Verleihung des „Kleinen Freundes“ für das aufgeblasenste Machwerk des abgelaufenen Kalenderjahrs – und gönnen uns damit auch mal selber was: das einjährige Verstummen unsres Lieblings-Schwadroneurs! Dass die Rezensionen eigener Werke gut ausfallen, reicht nämlich nicht; das verquaste Lob des Mittelmäßigen (oder gar Unterirdischen) ist ein weit schlimmeres Verbrechen am Guten als dessen Bemäkelung!
Also, lieber Raoul Schrott, Helmut Krausser, Jens Sparschuh, liebe Dagmar Leupold, Felicitas Hoppe, Birgit Vanderbeke usw., was ist uns dieser Preis wert? 10.000 Mark? 100.000 Mark? Die selbstverständlich nur dann ausgezahlt werden, wenn der Geehrte die Ehrung auch annimmt und sich ein Jahr lang landauf, landab durch sämtliche Feuilletons schweigt ...
Bis dieser längst überfällige Preis verliehen wird, bleibt zweierlei: Lassen wir uns, zum einen, die mühsam erkämpfte Neue Deutsche Lesbarkeit nicht von einigen Kritikern gleich wieder zur Neuen Deutschen Plattheit herunterhudeln – eine Harald-Schmidt-Show für Abiturienten ist, trotz des einen oder andern gelungenen Gags, noch keine Literatur; die besteht vor allem aus dem, was zwischen den Zeilen mitschwingt.
Zum andern: Die unfreiwillige Komik unsrer popistischen Autorendarsteller sollte dem Betrieb unbedingt noch eine Weile erhalten bleiben: Entfesselte Teletubbies und dazu der Chor der Berufsjugendlichen, die einen Heintje nicht mehr von einem Beck zu unterscheiden wissen – das ist eine wunderbare Piep-piep-die-Presse-hat-euch-lieb-Realsatire. Feiern wir noch eine Weile mit, so wie wir seinerzeit auch Guildo Horn mit seinen Orthopädischen Strümpfen gefeiert haben: Lassen wir sie ihre Nussecken unter die Teenies verteilen – aber hauen wir in Zukunft, bitte, jedem auf die Finger, der älter ist als dreißig und trotzdem glaubt, hier ein Stück vom guten alten Kuchen der Kunst zu ergrapschen.
Autorenhinweis:Matthias Politycki, 44 Jahre, Schriftsteller, lebt in Hamburg und München. Veröffentlichungen u. a. „Weiberroman“ und zuletzt „Ein Mann von vierzig Jahren“ (erschienen im Luchterhand Verlag). FOTO: ANNA WEISE
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