piwik no script img

Schaumstoff in der Stalinorgel

Sightseeing am Grenzzaun: Am Fatima-Tor flanieren Libanesen zu Musik, im Gefängnis betrachten sie die Folterzellen, in denen ihre Kämpfer saßen

aus Chiam THOMAS DREGER

Am Fatima-Tor herrscht Partystimmung. Aus dem Lautsprecher eines Eiswagens dudelt Musik, fliegende Händler bieten Softdrinks und Süßigkeiten an. Nur eine auf einem Schrottauto aufgedockte Stalinorgel erinnert daran, dass dieser Ort eine der heißesten Grenzen der Welt ist: Die mit Schaumstoff ausgestopften Rohre der Waffe zeigen nach Israel. Das ist hier gerade mal 15 Meter weit entfernt, und an den Rohren ist ein Schild befestigt mit der unmissverständlichen Drohung „Wenn ihr wiederkommt, kommen wir auch wieder.“ Gezeichnet: Hisbullah.

Deeskalation erwünscht

Am vergangenen Wochenende war es hier am Grenzzaun zu Unruhen gekommen. Die zu Tausenden aus dem ganzen Libanon angereisten Schaulustigen begannen Steine und Flaschen über den Zaun zu werfen. Ein israelischer Soldat verlor die Beherrschung und feuerte mit gummiumhüllten Stahlkugeln in die aufgebrachte Menge. Ergebnis: drei verletzte Libanesen.

Wenige Tage später setzen alle Beteiligten auf Deeskalation. Die israelischen Grenzer haben sich etliche hundert Meter zurückgezogen und lassen sich praktisch nicht blicken. An die Unruhen erinnert nur noch ein geräumtes Grenzhäuschen mit zertrümmerten Scheiben und einem Steinhaufen davor. Bewaffnete libanesische Miliziönäre sind ebenfalls nicht zu entdecken. Dafür jede Menge Libanesen beim Sightseeing: Männer in kurzen Hosen und Badeschlappen, Frauen in bunten Sommerkleidern, Mullahs mit schwarzen und weißen Turbanen und Frauen im schwarzen Schador flanieren an dem Grenzstreifen entlang. Auf einem Hausdach hat sich ein lokaler Fernsehsender aufgebaut und interviewt irgendeinen subalternen Politiker, mit israelischer Hügellandschaft im Hintergrund. Irgendwo hinten sind putzweiße Reihenhäuser zu erkennen: die nächste israelische Siedlung.

Plötzlich bewegt sich ein stahlgraues Etwas auf der anderen Seite. Als es näher kommt, ist es als Panzerfahrzeug mit Maschinengewehr auf dem Dach zu erkennen. Hinter den winzigen Fenster hocken zwei oder drei Personen. Ein wenig staunend beobachten die libanesischen Ausflügler das Objekt. Ein vielleicht zehnjähriges Kind greift zu einem Daumennagel-großen Kieselstein, wird aber von seinem Vater sofort in Richtung Eiswagen gezerrt. „Ich habe einen Israeli gesehen, ich habe einen Israeli gesehen!“, ruft lachend ein junger Mann, und sein Begleiter in Bermudashorts und Sandalen erwidert ihm ebenso lachend: „Du Hurensohn!“

Zwei Wochen nach dem plötzlichen Abzug der Israelis haben die Schiitenmilizen Hisbullah (Partei Gottes) und Amal (Hoffnung) die Kontrolle des Südlibanons übernommen. Es scheint kein Haus zu geben, an dem nicht mindestens eine Fahne der Organisationen flattert. Wer mit dem Auto fährt – und das sind viele – hat es mit Postern seiner politischen Helden gepflastert und hält natürlich mindestens eine wehende Flagge aus dem Fenster. Der Besucherandrang – in der ersten Woche sollen es eine Million Menschen gewesen sein – zwang die libanesische Armee, das Gebiet vorerst für Nicht-BewohnerInnen oder deren Verwandte zu sperren. Aber wer die Schleichwege kennt, kommt trotzdem durch.

„Israel hat im Süden Libanons zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Krieg verloren“, sagt Ahmad und lacht. Der 26-Jährige ist Tankwart in Bint al-Dschebail. Bis vor kurzem war das Städtchen Hauptquartier der „Region 17“ der israelischen Besatzungszone. Daran erinnern noch einige kaputte Panzer und Raketenwerfer, die wie Statuen auf zentralen Plätzen ausgestellt werden, und ein inzwischen abgeriegelter israelischer Posten auf einem Hügel. „Die sind innerhalb einer Stunde verschwunden“, sagt Ahmad. Über zwei Jahrzehnte Besatzung seien in rund 60 Minuten beendet worden. Waffen, Ausrüstung, Kleidung und Biervorräte wurden bei dem überstürzten Abzug einfach liegen gelassen.

Hisbullah allerorten

Das, was übrig blieb, fiel in die Hände von Hisbullah und Amal. Einige israelische Posten wurden gesprengt, sinnvolle Einrichtungen übernommen. So dient das einstige israelische Militärhospital jetzt der Zivilbevölkerung. Betrieben wird es – wie könnte es anders sein – von der Hisbullah. Die Milizionäre sorgten dafür, dass die Medikamentenvorräte nicht geplündert wurden, und sie holten qualifizierte Ärzte aus dem Norden.

Ahmad hat zeit seines bewussten Lebens nichts anderes als die Besatzung erlebt. „Ich war fast immer hier“, sagt er. Nur einmal habe er mit dem Roten Kreuz samt Sondergenehmigung nach Beirut fahren dürfen. Aber dann kamen die Israelis auf die Idee, er könnte politisch aktiv sein, und es gab keine weiteren Ausnahmeregelungen. „Jetzt will ich die Welt sehen“, sagt Ahmad. „Am Wochenende will ich nach Beirut, in Kneipen, Diskotheken und dann unbedingt mal nach Europa.“ Zumindest für den Trip in die libanesische Hauptstadt hat Ahmad das Geld zusammen. Seit tausende Besucher in den Süden strömen, ist Tankwart plötzlich ein lukrativer Job.

Ein besonders sensibles Thema ist das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen. Viele Dörfer im Südlibanon sind konfessionell gemischt. Das ging Jahrhundertelang gut – bis zur Besatzung. Die christliche Söldnertruppe „Südlibanesische Armee“ (SLA) schlug sich auf die Seite der Besatzer. Jetzt sind viele ihrer Offiziere nach Israel abgetaucht, weniger prominente Milizionäre sollen in die libanesische Armee integriert werden. Alle Seiten sind bemüht, Spannungen zwischen den Religionsgruppen zu verhindern. „Wir sind alle Libanesen, und es ist egal, welche Religion wir haben“, wird Hisbullah-Chef Said Hassan Nasrallah nicht müde zu erklären. Und tatsächlich hat es im Süden des Landes bisher keinerlei nennenswerten Schwierigkeiten zwischen Christen und Schiiten gegeben.

„Das ist Michel, mein bester Freund“, stellt Ahmad einen jungen Mann mit schwarzen Pferdeschwanz vor. „Er ist Christ und ich bin Schiit. Na und?“ „Wir sind alle Libanesen, nur das zählt!“, fällt ein älterer Mann ein. Fakt bleibt jedoch, dass der Süden Libanons von einer schiitischen Guerilla befreit wurde, während es Christen waren, die mit den Besatzern kollaborierten.

„Die Situation ist jetzt sehr ruhig“, sagt Ahmad mit ernstem Gesicht, „die Leute sind jetzt sehr vernünftig. In ein bis zwei Monaten wird hier die staatliche libanesische Armee einziehen, und dann gibt es keine Probleme mehr.“ Und die Steinwürfe über den Grenzzaun auf israelische Grenzer? „Sie haben das getan, weil sie froh sind.“ Nun mischt sich Ahmads Freund Michel ein: „Sie haben den Israelis eine klare Message geschickt: Kommt nie wieder hierher!“

„Ich traue den Israelis nicht. Solange sie in ihrem Land bleiben, ist das in Ordnung“, meint Ahmad. In ihrem Land? Ist das da hinter dem doppelten Stacheldrahtzaun nicht „besetztes Palästina“? Das zu befreien die Pflicht eines jeden Arabers und Muslims ist? Ahmad zuckt mit den Achseln: „Das ist die Angelegenheit der Palästinenser. Wenn die sich ihr Land erkämpfen, bitte schön. Mich geht das nichts an. Uns haben die Palästinenser jedenfalls nur Probleme bereitet. Als sie in den Libanon kamen, fing alles an. Ich mag die Palästinenser nicht.“ Da seien ihm die durch Zaun und Minenfeld von ihm getrennten Israelis fast lieber.

Einige Dutzend Kilometer weiter ist die Stimmung nicht so versöhnlich. Das Gefängnis von Chiam dürfte bald zum Symbol werden für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Hier hielten die israelischen Besatzer ihre Todfeinde gefangen oder jene, die sie dafür hielten. In Zellen, die an Legebatterien erinnern, wurden Aktivisten der Hisbullah festgehalten, zum Teil als Geiseln für die Überreste von im Libanon gefallenen israelischen Soldaten. Den Kerker auf dem Hügel haben die Israelis im Eiltempo verlassen. Die Gefangenen ließen sie in ihren Zellen zurück. Sie wurden anschließend von Bürgern Chiams befreit. Bis zu acht Häftlinge drängten sich in maximal zehn Quadratmeter großen Zellen – zum Teil ohne Tageslicht.

Gruseliger Wallfahrtsort

Jetzt ist Chiam ein gruseliger Wallfahrtsort. Hunderte LibanesInnen quetschen sich durch die engen Gänge. Die meisten halten sich Tücher vor die Nasen, denn die sanitären Einrichtungen sind in einem katastrophalen Zustand, an Decken und Wänden wuchert der Schimmel, und in der Gefängnisküche vermodern zurückgelassene Lebensmittel.

„Wie können Menschen so etwas mit Menschen tun“, bricht es aus einer Frau heraus, als sie eine der fast stockdunklen Zellen betritt. Der Gestank, der ihr entgegenschlägt, stammt von Matratzen und Decken, die wohl monatelang nicht gewaschen wurden. Der Frau treibt es die Tränen in die Augen: „Das, was die Israelis hier getan haben, ist Haram.“ Was sie damit meint, ist: von Gott verboten.

„Zimmer für Elektroschockbehandlung“ steht auf einem nach dem israelischen Abzug angebrachten Zettel an einer Tür. Die Einrichtung ist völlig verwüstet. Sollten hier Foltergeräte gestanden haben, die Israelis haben sie wahrscheinlich mitgenommen. Aber an der Wand hängt immer noch ein seltsames Drahtgestänge, an dem man gut einen Häftling anschnallen könnte. Und in einer Ecke steht eine Plastikbahre. „Damit haben sie wahrscheinlich die durch die Folter ohnmächtig gewordenen Menschen wieder in die Zellen gebracht“, vermutet ein älterer Herr.

Beweisen lässt sich das wohl nicht. Aber die Vermutungen, die sich beim Rundgang durch das Gefängnis aufdrängen, decken sich mit dem, was Menschenrechtsorganisationen seit Jahren an Informationen über Chiam zusammengetragen haben. Und es gibt unzweifelhafte Überbleibsel der Misshandlungsmaschinerie: eine ganze Reihe etwa eineinhalb mal zwei Meter großer Zellen. Auf dem Boden haben gerade mal eine Matratze, ein Essnapf und eine Plastikschüssel für die Notdurft Platz. Verriegelt werden die Zellen durch grüne Stahltüren mit einem DIN-A4-Blatt-großen Lichtschlitz – der sich zuschieben lässt. „Hier wurden widerspenstige Gefangene in Dunkelhaft gehalten, oft tagelang“, erzählt eine Frau. Und auf den fragenden Blick fügt sie hinzu: „Ich weiß das ganz genau. Mein Bruder saß hier drin. Jetzt ist er ein gebrochener Mensch. Und dafür werde ich die Israelis ewig hassen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen